Samstag, 22. Mai 2021

Wider die alte Leier

Die Predigt von Erzbischof Becker von Paderborn bei der heutigen Priesterweihe (findet sich hier).

Der Text zu Dokumentationszwecken (vom Computer getippt und von mir bereinigt):

 

»Diese Geschichte von Saul und David [die wir eben gehört haben: 1 Sam 16,14-23] findet man z.Z. in keiner Leseordnung. Sie mögen sich wundern, warum ich diese Stelle ausgesucht habe, aber vielleicht wundern sie sich gleich nicht mehr.

Ich kann sie nicht verbergen. Meine Liebe zur Musik und auch meine Prägung durch die Musik. Die Musik ist mir ein Geistlicher Nährboden. Neben der Theologie natürlich und der christlichen Spiritualität. Und vor diesem Hintergrund erlaube ich mir heute morgen mit Ihnen einen Gedankengang vorzunehmen und einen Gedanken aufzugreifen des Märtyrerbischofs Ignatius von Antiochien (um das Jahr 107). Da sagt er ganz einfach, an die Gemeinde in Ephesos geschrieben: „Nehmt Gottes Melodie in euch auf.“

Hat Gott ein Lied für uns ein Lebenslied? In diesem Brief vergleicht Ignatius die Gemeinde mit einem großen Chor. Da sagt er: „Nehmt Gottes Melodie in euch auf, so werdet ihr alle zusammen zu einem Chor. Und in eurer Eintracht und zusammenklingenden Liebe ertönt durch euch das Lied Jesu Christi, das ist das Lied, das Gott der Vater hört, und so erkennt er euch alle als die, die zu Christus gehören." Ein Wort voller Poesie.

Das schreibt ein Mann der gefesselt in einer Soldatenkohorte daherzieht, auf Rom zu, und er weiß, dass er den gewaltsamen Tod durch wilde Tiere entgegengeht. Dieser Bischof Ignatius hat die Vorstellung, dass Gott für jeden eine Stimme, eine Lebensmelodie hat. Und wenn jeder die ihm zugedachte Melodie Gottes wirklich hört und in sich aufnimmt, dann wird der zusammen aller Stimmen eine Symphonie. Symphonie heißt der wörtlich „Zusammenklang“.

Fragst du dich, lieber Weihekandidat, am Tag deiner Priesterweihe: „Was ist Gottes Melodie, Gottes Lied für mich? Welche Stimme hat er mir zugedacht?“

Ich bewundere und verehre den großen Geigenvirtuose Yehudi Menuhin. Einer der ganz großen Musiker des 20. Jahrhunderts. Er hat Lebenserinnerungen geschrieben unter dem Titel „Unvollendete Reise“. Da denkt er an einer Stelle über die Interpretation eines Musikstücks nach und schreibt: Im Idealfall würde man eine Passage ganz gleichmäßig spielen und gerade soviel Unregelmäßigkeit zulassen, dass ein Element der Lebendigkeit spürbar bleibt. Dieses Element der Lebendigkeit nennt er „la part de Dieu – Gottes Part“. Jede große Aufführung lebt davon. Gottes Part.

Die Noten die Partitur so exakt wie möglich, aber dann jener Spielraum zwischen den Noten den wir nicht in der Hand haben, und der Alles bewegt und belebt: „la part de Dieu – Gottes Part“. Und heute: Gottes Part im Dienst des Priesters.

Ein beachtenswertes Bild Schwestern und Brüder: Nehmt Gottes Melodie in euch auf. Gott ist wie eine unerschöpfliche Melodie die in uns zum Klingen kommen will. Die Seiten sind in uns angelegt, wir können sie schwingen lassen und der ganze Körper mit allen Fasern unserer Seins kann zum Resonanzboden werden.

Meine Lieben Weihekandidaten: Gott hat für jeden von uns eine eigene Stimme vorgesehen. Eine unverwechselbare Lebensmelodie. Ihre Lebensmelodie erfährt heute eine sakramentale Linienführung. Das Sakrament der Weihe schlägt den Ton in ihnen und durch sie an. Jenen Ton, den wir als Gottes Part erkennen dürfen. Wenn jeder seinen Part hört und in sich aufnimmt, dann kommt es zu einem guten Zusammenklang zu einer Sinfonie und im Urtext des Bischofs Ignatius steht buchstäblich Symphonie. Die mir und dir zugesagt und zugedachte Lebensmelodie kommt erst im Zusammenklang mit den anderen Stimmen zur Geltung und da soll ein Chor entstehen in dem jeder seine Lebensmelodie einbringen. So kann durch uns das Lied Jesu Christi erklingen und Gott erkennt uns Menschen, die zu Christus, seinem Sohn, gehören.

Gesang, Chor, Gottes Melodie: Das hat hier in unserem Dom einen festen und würdigen Platz und das soll auch den Christen prägen, daran soll man ihn auch erkennen. Jetzt können Sie sagen: „Ist das nicht ein bisschen zu harmonisch oder zu romantisch, lieber Bischof?“ Mancher wird denken – auch hier in Dom –: „Naja, ihr vier heute morgen, an einem Tag wie heute, ihr habt gut singen. Aber wisst ihr denn nicht, was wirklich gespielt wird? Wartet nur ab. So wie es in der Kirche aussieht, wird euch das Siegen bald vergehen!“

Wirklich? Sie wissen wie es in der Kirche aussieht und sie meine Lieben Kandidaten machen sich auch nichts vor. Sie gehen nicht mit Scheuklappen durch das Bistum und auch nicht durch ihre ersten diakonalen, seelsorglichen Gemeindefelder. Und trotzdem hören Sie den Ruf: „Nehmt Gottes Melodie in euch auf.“ Es geht um einen anderen Ton, der hier angeschlagen wird. Es geht hier nicht um die übliche alte Leier.

Die alte Leier: Wir kennen Sie zur Genüge. Wo Kirchenleute aller Ebenen heute zusammensitzen, sprechen sie in aller Regel die meiste Zeit darüber, wie schwierig es doch alles jetzt ist und wie es bergab geht, und dass ihn Grunde „Rom“ oder „Paderborn“ oder „Köln“ an allem Schuld ist.

Schwestern und Brüder, es gibt so eine negative Genüsslichkeit innerhalb der Kirche. Diese Genüsslichkeit ergeht sich auf den Schattenseiten – die zweifellos da sind – und kommt sich dabei äußerst „progressiv“ vor. Jemand hat es einmal sehr markant ausgedrückt: „Je progressiver desto hoffnungsloser.“ Da gehört es zum guten Ton sich als ohnmächtig gegenüber der „Institution“ zu empfinden; man erschöpft sich in Selbstmitleid und psychologischer Selbstpflege. Die alte Leier.

Von solchem Lamentieren kann man nicht leben. Wenn ich der Kirche immer nur wieder nachweisen möchte, dass man ja eigentlich in ihr gar nicht leben kann, dann kann ich sie nicht, und auch in ihr nicht leben, nicht arbeiten und auch nicht, wenn es sein muss, leiden oder sogar kämpfen.

Ich zitiere Dorothee Sölle: „Aus der Perspektive der Armeen betrachtet, ist solche Hoffnungslosigkeit eine Art Luxus für diejenigen, die nicht in die waren Kämpfe vor Ort verwickelt sind. Solche Hoffnungslosigkeit können wir uns nur in unserem Wohlstandskirchen leisten. Den jungen armen Kirchen im Süden ist sie ganz fremd und sie ist auch nicht mit Argumenten, so habe ich oft den Eindruck, zu besiegen.

Aber man könnte ja, wie der Junge David im Falle des depressiven Saul, zur Zither greifen um die Schmermut zu lindern oder gar zu vertreiben. David hat die Lieder angestimmt, die bis heute Tag für Tag in der Kirche erklingen, auch in der Liturgie. Das liebe Weihekandidaten soll nun ihre Lieder werden. Diese Gotteslieder, vor allem die durch Jahrtausende alten Psalmen, wollen und sollen sie anstimmen, das weitet den Raum und das eröffnet Perspektiven.

Im letzten Buch der Heiligen Schrift, in der Geheimen Offenbarung des Johannes, heiß es: Und die Sieger trugen die Harfen Gottes. Sie sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied zu Ehren des Lammes. Das muss es geben in unserer Welt. Das muss es geben durch die Zeiten hindurch: Menschen, die die Harfen Gottes tragen und das Lied zu Ehren des Lammes anstimmen. Es muss sie geben: Menschen die sich in all ihrer Gebrechlichkeit rufen lassen, damit sie im Konzert der Menschen den Part Gottes durchkommen lassen. Wenn der Part Gottes verstummt in der Kirche – und dann in der Welt – dann gute Nacht!

In einem altkirchlichen Hymnus ist zu lesen: Wie der Wind durch die Harfe streicht und die Saiten erklingen, so fährt der Geist des Herrn durch unsere Glieder und ich fange an zu singen von seiner Liebe berührt. Part Gottes.

Ich kenne noch einen anderen großen Geiger des 20. Jahrhunderts, Isaac Stern. Er wurde kurze Zeit nach der Kulturrevolution nach Rotchina eingeladen und sollte dort das neu beginnende Musikleben kennenlernen und auch beurteilen. Er hat die Einladung unter einer Bedingung angenommen: Er wollte das was sich ihm darbot festhalten, mit der Kamera dokumentieren. Da ist ein aufschlussreiches Dokument zustande gekommen, in dem man alles sieht: Alles perfekt eintrainiert, ganz exakt ausgeführt, aber es klingt nicht. Es fehlt der Spielraum aus dem die Musik ihre Strahlkraft bekommt: „la part de Dieu – Gottes Part“.

Ja liebe Schwestern und Brüder, das treibt mich schon um: Wir könnten im großen Konzert unserer Kirche in Deutschland sein wie ein Orchester, das die Noten und die Partitur beherrscht, mit äußerster Perfektion spielt. Aber es fehlt der Spielraum Gottes. Vom Spielraum Gottes sind die Menschen bewegt und werden sie bewegt werden und belebt werden. Ja, wir müssen mit den Noten korrekt umgehen, wir müssen sie spielen. Es geht nicht nur um unsere eigenen Improvisationskünste. Aber die Noten allein bringen es nicht. Mit all unseren erlernten pastoralen, Künsten und Medien allein, werden wir es nicht vollbringen. Es wird alles darauf ankommen, dass Gott durchkommt sein Atem, sein schöpferischer Geist, der Menschen begeistern kann – der Part Gottes. So spreche ich Ihnen heute, meine Lieben Kandidaten, am Tage ihrer Priesterweihe und uns allen, Schwestern und Brüder, die wir uns den Resonanzboden unseres christlichen Zeugnisses und unserer christlichen Freude nicht zerstören lassen wollen, ich rufe uns allen zu: „Nehmt Gottes Melodie in euch auf!“ Der Part Gottes ist mächtiger als wir es uns denken können.

Liebe Neupriester unseres Erzbistums: Er spielt ihn nicht zuletzt in ihrer Lebensmelodie als Priester Jesu Christi. Dazu gilt Ihnen mein herzlicher Segenswunsch an dieser Stelle.«

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