Montag, 29. August 2022

Amputierte Lesungen - Hebr 12

Die vielleicht wichtigste Errungenschaft der letzten Liturgiereform ist die sehr stark ausgeweitete Leseordnung, die nun weitaus mehr biblische Texte in die Heilige Messe bringt. Zugleich ist es eine der großen Schandtaten jener Liturgiereform, wie manchmal mit den Texten umgegangen wurde. Für mich schlimmstes Beispiel ist die Mahnung des Apostels Paulus vor dem unwürdigen Empfang der Eucharistie (1Kor 11,27-30), die konsequent ausgelassen wird (Gründonnerstag, Fronleichnam, Votivmesse Eucharistie). Das ist nicht nur dramatisch, weil es eine moralisch höchst anspruchsvolle Weisung ist, sondern es ist für Paulus DER Punkt auf den er hinaus will (denn es sind Ungereimtheiten und Streiterein um das Herrenmahl, die seinen Brief veranlasst haben!) und die Missachtung dessen ist lebensgefährlich: "Deswegen sind unter euch viele schwach und krank und nicht wenige sind schon entschlafen."

Wie dem auch sei. Die vergangenen zwei Sonntage bieten ein ähnliches Problem, diesmal ist der Hebräerbrief dem unseligen Kastrieren zum Opfer gefallen. Vor zwei Wochen war Hebr 12,5-7.11-13 die zweite Lesung, vergangenen Sonntag war es 12,18-19.22-24a. Es fehlen die Verse 4, 8-10, 14-17, 20-21 und Vers 24b.
Hebr 12,4-24 ist ein in sich geschlossener Sinnabschnitt, aus dem an diesen beiden Sonntagen vieles herausamputiert wurde, was inhaltlich durchaus schwer wiegt – und sicher nicht, weil es „zu lang“ geworden wäre, denn viel Masse ist es nicht.

Die Lesungen mit den herausgeschnittenen Versen hervorgehoben:

4 Ihr habt im Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet
5 und ihr habt die Mahnung vergessen, die euch als Söhne anredet: Mein Sohn, verachte nicht die Erziehung des Herrn / und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist!
6 Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; / er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.
7 Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet! Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt?
8 Würdet ihr nicht gezüchtigt, wie es doch bisher allen ergangen ist, dann wäret ihr keine legitimen Kinder, ihr wäret nicht seine Söhne.
9 Ferner: An unseren leiblichen Vätern hatten wir harte Erzieher und wir achteten sie. Sollen wir uns dann nicht erst recht dem Vater der Geister unterwerfen und so das Leben haben?
10 Jene haben uns für kurze Zeit nach ihrem Ermessen in Zucht genommen; er aber tut es zu unserem Besten, damit wir Anteil an seiner Heiligkeit gewinnen.
11 Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Leid; später aber gewährt sie denen, die durch sie geschult worden sind, Gerechtigkeit als Frucht des Friedens.
12 Darum macht die erschlafften Hände und die wankenden Knie wieder stark,
13 schafft ebene Wege für eure Füße, damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern vielmehr geheilt werden!

14 Trachtet nach Frieden mit allen und nach der Heiligung, ohne die keiner den Herrn sehen wird!
15 Seht zu, dass niemand von der Gnade Gottes abkomme, damit keine bittere Wurzel aufsprosst, Schaden stiftet und viele durch sie verunreinigt werden,
16 dass keiner unzüchtig ist oder gottlos wie Esau, der für eine einzige Mahlzeit sein Erstgeburtsrecht verkaufte!
17 Ihr wisst auch, dass er verworfen wurde, als er später den Segen erben wollte; denn er fand keinen Raum zur Umkehr, obgleich er unter Tränen danach suchte.

18 Denn ihr seid nicht zu einem sichtbaren, lodernden Feuer hinzugetreten, zu dunklen Wolken, zu Finsternis und Sturmwind,
19 zum Klang der Posaunen und zum Schall der Worte, bei denen die Hörer flehten, diese Stimme solle nicht weiter zu ihnen reden;
20 denn sie ertrugen nicht den Befehl: Sogar ein Tier, das den Berg berührt, soll gesteinigt werden.
21 Ja, so furchtbar war die Erscheinung, dass Mose rief: Ich bin voll Angst und Schrecken.
22 Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hinzugetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung
23 und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind, und zu Gott, dem Richter aller, und zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten,
24 zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels.


Ein wirklich sehr kurzer, überhaupt nicht erschöpfender Kommentar zu den amputierten Versen, und warum sie wichtig sind.

Vers 4: Das Fehlen dieses Verses entmündigt die Zuhörer, denn ihnen wird das eigentliche Thema des Abschnitts vorenthalten. Und leider hat das den gegenteiligen Effekt von dem, was wohl angestrebt war: Die Passage über die Züchtigung durch Gott wird dadurch nicht entschärft, sondern in ein ganz falsches Licht gerückt. Denn Vers 4 macht deutlich, dass es um die Nachfolge Jesu geht, der vor allen anderen „bis aufs Blut gelitten“ hat. Außerdem wird klar, dass es nicht einfach um irgendwelche, willkürlich zugefügten Leiderfahrungen geht, sondern um Leid, das in Kauf genommen wird, um nicht zu sündigen (man denke etwa an die Wahl der Märtyrer, den Götzen zu Opfern oder von Löwen zerfetzt zu werden). Ohne Vers 4 entsteht hier ein ganz irriger Eindruck.

Vers 8: Es wird deutlich, was man gerne vergessen möchte, dass es auch illegitime Söhne Gottes gibt, so wie es auch Ehebrecher in Bezug auf Gott gibt (nämlich: Götzendiener). Mir scheint hier die Sinnspitze des Abschnitts betroffen: Der Autor möchte die Züchtigungen als etwas Unvermeidliches darstellen, und kontrastiert dies damit, dass es noch viel schlimmer für seine Zuhörer wäre, wenn sie sich dem entziehen wollten, weil sie dann keine legitimen Söhne mehr wären.

Verse 9-10: Das ist heute nicht mehr zeitgemäß. Umso verwunderlicher, dass die Stoßrichtung des Abschnitts beibehalten wurde: Der Hinweis auf die zu erwartende Züchtigung. Hätte man hier bloß Missverständnisse vermeiden wollen (dass manche Zuhörer, insbesondere in nicht-europäischen Kulturen, dies zum Anlass für häusliche Züchtigungen nehmen), hätte man den ganzen Abschnitt dazu weglassen müssen. Gerade die Verse 9-10 hätten dem heutigen Leser deutlich machen können, woher diese Bildrede von der Züchtigung durch Gott in Hebr stammt.

Verse 14-17: Das gehört zweifelsohne zur Kernbotschaft Christi: Gefordert wird „Heiligung, ohne die keiner den Herrn sehen wird“. Es geht letztlich um nichts weniger als die Angleichung an Jesus (siehe Vers 4!). Johannes hilft zum Verständnis: „Jeder, der diese Hoffnung auf ihn setzt, heiligt sich, so wie er heilig ist.“ (1Joh 3,3) Ähnlich wie Vers 8, ist wohl auch hier das Anstößige, das zur Amputation geführt hat, dass Hebr die Möglichkeit des Abfalls thematisiert. Mehr noch: Es wird die Gefahr der Fäulnis innerhalb der Gemeinde angesprochen, die um sich greifen kann: „damit keine bittere Wurzel aufsprosst, Schaden stiftet und viele durch sie verunreinigt werden“. Das will man natürlich heute nicht hören, das ist nicht nett.

Verse 20-21: Wieder ist die Sinnspitze des Abschnitts getroffen, diesmal aber noch krasser, denn der Passage fehlt damit die Spitze gleich ganz, sie wird nicht nur unverständlicher, wie im vorherigen Abschnitt. Was ist diese Sinnspitze? Nun, das sichtbare, lodernde, zu dem wir nicht „hingetreten“ sind, ist reichlich vage – was meint der Autor, worauf spielt er an? Natürlich: Es sind verschiedene Offenbarungen Gottes im Alten Bund (Dornbusch, Wolkensäule etc.). Aber so, wie die Passage im Lektionar steht, fehlt die eigentliche Wucht, denn die wichtigste, gewaltigste und für Israel unüberbietbare Offenbarung fehlt. Die Verse 20-21 spielen ziemlich deutlich genau darauf an: Es geht um die Offenbarung Gottes auf dem Sinai („Berg“, „Mose“). Hebr will sagen: Wozu wir hingetreten sind, ist noch weit mehr als alle Offenbarungen, sogar mehr als jene Offenbarung am Sinai!

Vers 24b: Da man Vers 4 weggelassen hat, ist man hier wenigstens konsequent, und lässt auch diese Anspielung auf Jesu Leid „bis aufs Blut“ weg. Schade, damit ist auch der Hinweis zerstört, der das Christusereignis in die gesamte Menschheitsgeschichte (von Abel an) einbindet.

In Summe macht Hebr deutlich: Was wir hier in Jesus haben, der für uns starb und dem wir uns auch im Leid angleichen sollen, ist mehr als alle früheren Offenbarungen Gottes an die Menschen, und auch mehr als alle früheren Hinwendungen (Schreie) der Menschen zu Gott. Leider hat man es offenbar den Gläubigen (und den Predigern) nicht zugetraut, dieses Große ganz vor das geistige Auge gestellt zu bekommen...