Donnerstag, 30. April 2020

Die Essenz der Krise

»Der Mensch von heute versteht die christliche Erlösungslehre nicht mehr. Sie findet keine Entsprechung in seiner eigenen Lebenserfahrung. Er kann sich unter Sühne, Stellvertretung, Genugtuung einfach nichts vorstellen. Das, was mit dem Wort Christus, Messias, gemeint war, kommt in seinem Leben nicht vor und bleibt damit leere Formel. Auf diese Weise fällt das Bekenntnis zu Jesus als Christus ganz von selbst dahin. […] Erlösung wird durch Befreiung im neuzeitlichen Sinn ersetzt, die mehr psychologisch-individuell oder mehr politisch-kollektiv verstanden werden kann und sich auch gern mit dem Mythos vom Fortschritt verbindet. Dieser Jesus hat uns nicht erlöst, aber er kann ein Leitbild sein, wie Erlösung, d.h. Befreiung, zustande kommt. Wenn aber keine schon geschenkte Gabe der Erlösung zu vermitteln ist, sondern nur Anweisungen für unsere Selbsterlösung zu geben sind, dann ist wiederum die Kirche im überlieferten Sinn ein Unding, ja, ein Ärgernis. Sie trägt dann keine Vollmacht in sich; die beanspruchte Vollmacht ist unter dieser Voraussetzung nur angemaßte Macht. Stattdessen müsste sie zu einem Ort der »Freiheit« in einem psychologischen oder politisch verstandenen Sinn werden. Sie müsste der Raum unserer Wunschträume vom befreiten Leben sein; sie kann auf nichts jenseitiges verweisen, sondern muss sich jeweils in meiner eigenen Erfahrung als innerweltlich erlösende Instanz bewähren. Alle Unerlöstheit meiner eigenen Existenz, alle Unzufriedenheit mit mir selbst und den anderen fallen auf sie zurück.
[...] Man kann sich einen Gott nicht mehr vorstellen, der sich um den einzelnen Menschen kümmert und der überhaupt in der Welt handelt. Gott mag den Urknall angestoßen haben, wenn es ihn schon geben sollte, aber mehr bleibt ihm in der aufgeklärten Welt nicht. Es scheint fast lächerlich, sich vorzustellen, dass ihn unsere Taten und Untaten interessieren, so klein sind wir angesichts der Größe des Universums. Es erscheint mythologisch, ihm Aktionen in der Welt zuzuschreiben. [...] Wenn aber Gott mit uns letztlich nichts zu tun hat, dann fällt auch der Gedanke der Sünde dahin. Dass eine menschliche Tat Gott beleidigen könne, ist vielen ein ganz unvollziehbarer Gedanke geworden. So besteht für die Erlösung im klassischen Sinn des christlichen Glaubens überhaupt kein Anlass mehr, weil es kaum jemand einfällt, die Ursache für das Elend der Welt und der eigenen Existenz in der Sünde zu suchen. Deshalb kann es natürlich auch keinen Sohn Gottes geben, der in die Welt kommt, um uns von der Sünde zu erlösen, und der dafür am Kreuz stirbt. Von daher erklärt sich noch einmal die grundlegende Veränderung im Verständnis von Kult und Liturgie, die in letzter Zeit von Langem her vorbereitet vor sich gegangen ist: Ihr erstes Subjekt ist nicht Gott, auch nicht Christus, sondern das Wir der Feiernden. Und sie kann natürlich auch nicht Anbetung als primären Sinn haben, für die ja bei einem deistischen Gottesverständnis kein Grund besteht. ebenso wenig kann es um Sühne gehen, um Opfer, um Vergebung der Sünden. Es geht vielmehr darum, dass sich die Feiernden ihrer Gemeinschaft untereinander versichern und damit aus der Isolation heraustreten, in die die moderne Existenz den Einzelnen hineindrängt. Es geht darum, Erlebnisse der Befreiung, der Freude, der Versöhnung zu vermitteln, Schädliches zu denunzieren und Impulse für die Aktion zu geben. Deswegen muss auch die Gemeinde ihre Liturgie selbst machen und nicht aus unverständlich gewordenen Traditionen empfangen; sie stellt sich selber dar und feiert sich selbst. Allerdings darf man auch eine Gegenbewegung nicht übersehen, die gerade in der jungen Generation immer deutlicher wird: Die Banalität und der kindische Rationalismus selbst gebastelter Liturgien mit ihrer künstlichen Theatralik werden in ihrer Armseligkeit immer mehr durchschaut; ihre Nichtigkeit wird offenbar. Die Vollmacht des Mysteriums ist verschwunden, und die kleinen Selbstbestätigungen, mit denen man diesen Verlust wettmachen will, können auf die Dauer nicht einmal die Funktionäre befriedigen, Wie viel weniger diejenigen, die sich von solchen Aktionen angesprochen fühlen sollen. [...] Schließlich darf man sagen, dass dort, wo die Liturgie vom Mysterium durchleuchtet ist, wieder neue Orte des Glaubens entstehen.«
(aus: Joseph Ratzinger, Gesammelte Schriften 9/2, 981-983 [= Ein Neues Lied für den Herrn, 47-49])


Der Text stammt aus dem Jahr 1992. Gegenwärtig wird von unzähligen Theologen in Fakultäten und Bistümern die Abkehr vom Mysterium zugunsten selbstgebastelter Liturgien und Rituale mit viel Aufwand betrieben. Dies scheint ihnen schon deshalb geboten, weil die Eucharistie des geweihten Priesters bedarf... das sind gleich zwei Sakramente, die in erdrückender Deutlichkeit unermüdlich beweisen, dass wir auf das Heil angewiesen sind, das nicht von uns selbst kommen kann. Unerträglich! Dass nicht wenige Bischöfe sich schon länger auch aktiv daran beteiligen, stellen dieser Tage die Bischöfe Jung in Würzburg [hier] und Neymeyer [hier] in Erfurt eindrücklich dar. Der viel beschworene Priestermangel dient nur als Vorwand, eigentlich kommt er nämlich sehr gelegen: Jedes Mittel ist recht, um „die Fixierung auf die Eucharistiefeier aufzubrechen und den Wert anderer Gottesdienstformen zu vermitteln.“ (so Neymeyer)
Man entzieht sich damit bewusst oder unbewusst der eigenen Pflicht und Verantwortung; im Grunde ist es ein Verrat am Herrn selbst, dessen größtes Gebot - "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" - relativiert wird. Man lässt sich vom Strom der Zeit in Richtung Abrgund treiben und fühlt sich dabei sogar noch als "mutiger" Vordenker und -kämpfer, weil man sich gegen einen anderen Strom stellt: Gegen den mystischen Strom, der von den Wunden des Erlösers ausgeht, das Rinnsal, das unter dem Altar entspringt und zum großen Fluss wird, der Gnadenstrom.

Mittwoch, 29. April 2020

Priester sagen und Priester sein

Da ein hochrangiger Kirchenmann seine Ansicht kundgetan hat, die Abschaffung des Sonntagsgebots sei eine sinnvolle Idee (hier), und weil es dieser Tage sowieso viele Bischöfe nicht unterlassen können, ihre Gläubigen pauschal und unbefristet von diesem Gebot zu "dispensieren" (wobei kirchenrechtlich zumindest fragwürdig ist, ob das überhaupt geht, wobei kirchenrechtlich völlig klar ist, dass es jedenfalls überflüssig und unsinnig wäre), scheint es eine gute Gelegenheit, zu einem verwandten Thema ein kurzes Wort zu sagen.

Es ist ja nun sehr modisch in, Zeiten von angstfreier Augenhöhe und demokratisch-pluraler Partizipation, Worte wie "Taufpriestertum" oder "gemeinsames Priestertum" oder andere diesen Sinn tragenden Ausdrücke kämpferisch im Munde zu führen. Schließlich, so wird gesagt, seien alle Getauften auch Priester, und darum... Und es stimmt ja auch: alle getauften sind Teil des königlichen, priesterlichen und prophetischen Volkes Gottes. Doch tut sich ein Problem mit der Glaubwürdigkeit vieler auf, die sich hier kämpferisch äußern: DER "priesterliche" Auftrag des Neun Testaments lautet "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" Wer das nicht mit der ganzen Kirche (und entsprechend ihrer Ordnung) tut, hat m.E. keinerlei Recht, sich als "Priester" zu sehen. Wer es nicht für nötig erachtet, sonntags die Eucharistie mit zu feiern, der hat m.E. kein Recht, sich als "Priester" zu bezeichnen. Darum ist ja auch ein Boykott wie der von Maria 2.0 so unsinnig.

Ein kleiner Text von Bernhard Häring (bevor er "abging"):
»Als Getaufter, als lebendiges Glied des Gottesvolkes, des „Königreichs von Priestern" (Ex 19, 6; Offb 1, 6; 5, 10), soll der Christ seine größte Ehre und heiligste Pflicht darin sehen, das Opfer des Neuen Bundes mitzufeiern. Das seiner Seele eingeschriebene Tauf- und Firmgepräge ist eine ehrenvolle Einladung durch Christus. Das [Sonntags-]Gebot der Kirche spricht das in Worten aus, was die Flammenschrift des Heiligen Geistes als Gnade verliehen hat. Die Kirche erinnert die Säumigen und will die Erfüllung des ihr vom Herrn gegebenen Auftrags zu gemeinsamer Feier Seiner Liebestat („Tut dies zu Meinem Gedächtnis!“) sicherstellen. Meine erste Sorge wird also sein, daß ich als ein lebendiges Glied des Gottesvolkes im Stand der Gnade und „in Geist und Wahrheit“ (Joh 4, 24) das Opfer der Kirche Christi mitfeiere. Das zweite wird sein, daß ich froh mit dem Herzen dabei bin und mein Möglichstes tue, um im Beten und Singen meine Zugehörigkeit zum Gottesvolk zu bekunden. Wenn ich die sonntägliche Mitfeier des Festes der Liebe so betrachte, stehe ich nicht mehr wie ein Knecht unter einem Gesetz, sondern wie ein Freund Christi unter der Gnade“ (Röm 6, 14).«

(aus: Christ in einer neuen Welt)

Der Priester ist der, der am wenigsten seinen Willen bekommt (vgl. hier meine Bemerkungen zum Priestertum). er ist Diener eines anderen Willens, nämlich des göttlichen, und der ist heute kein anderer als vor 2000 Jahren.