Freitag, 27. März 2020

Jesus ist nicht „unser Bruder“

Vor ein paar Jahren habe ich mich hier sehr kurz mit der zuweilen missbräuchlich in der Liturgie gebrauchten Bezeichnung Jesu als „unser Bruder“ beschäftigt. Das will ich im Folgenden etwas ausführlicher tun.


Wir können schon gleich zu Anfang festhalten: Jesus wird nirgends im Neuen Testament von seinen Jüngern als „(unser) Bruder“ angeredet, so bezeichnet oder gar als solcher verkündet. Auch die Autoren der Evangelien bezeichnen ihn nie so. Die Apostel und die Evangelisten verkündeten Jesus stets als Herr (gr. Kyrios) (Apg 4,33), Christus (Apg 3.20) oder Sohn Gottes (Apg 9,20), nie als Bruder (gr. Adelphos). Eine nur scheinbare Ausnahme davon ist Röm 8,29:
»Röm 8,28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht, denen, die gemäß seinem Ratschluss berufen sind; 29 denn diejenigen, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. 30 Die er aber vorausbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.«

Zunächst: Was hat es mit den „vielen Brüdern“ auf sich, denen Paulus hier Jesus als der „Erstgeborene“ beigesellt? Diese scheinbar familiäre Aussage über die, die hier als „Brüder“ bezeichnet werden, ist ganz klar an eine Bedingung geknüpft, die wir im vorhergehenden Vers erfahren: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht“ (Röm 8,28), sie sind es, die „im Voraus dazu bestimmt“ sind, an „Wesen und Gestalt“ Jesu teilzuhaben. Wenn hier also von „Brüdern“ die Rede ist, dann sind damit diejenigen gemeint, „die Gott lieben“, was natürlich nur ein Leben nach dem Willen und Gebot Gottes meinen kann (vgl. Joh 14,21: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt“).
Beachtenswert ist an dieser Stelle des Römerbriefes die Richtung, in die die Aussage geht: Wir sollen an Jesu Wesen und Gestalt teilhaben, damit IHM, Jesus, etwas zukommt, nämlich der „Erstgeborene“ zu sein. Nun ist es natürlich völlig unproblematisch, dass die, die Jesus nachfolgen, unter sich „Brüder“ (und Schwestern) sind (in Apg werden sie ständig so genannt). Schwieriger zu verstehen ist aber eben diese Rede von Jesus als dem „Erstgeborenen“ (gr. prototokos). Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich dabei nicht um irgendeine willkürliche Vokabel handelt. Sondern es handelt sich um einen besonderen Hoheitstitel, der Jesus gerade nicht gewissermaßen „horizontal“ in die Reihe der „Brüder“ hineinordnet, sondern der stattdessen die Vertikale (hierarchische) Ordnung zwischen Jesus und der Kirche bzw. der ganzen Schöpfung betont. Die Aussageabsicht zielt auf die Majestät Jesu als dem „Erstgeborenen“ ab. Pointiert könnte man sagen: Dem Erstgeborenen ist niemand ebenbürtig. Ausführlich stellt uns diesen Sachverhalt derselbe Paulus im so genannten Kolosserhymnus gleich doppelt vor Augen:
»Kol 1,15 Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. 16 Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. 17 Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. 18 Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. 19 Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, 20 um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.« (siehe dazu auch die ähnlichen Aussagen in Hebr 1,5-8 und Offb 1,5-6)

Wollte man die Aussage des Paulus im Römerbrief über Jesus als den „Erstgeborenen unter vielen Brüdern“ so verstehen, dass Jesus einer der Brüder ist, dann müsste man mit der selben Logik auch sagen, dass Jesus als „der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ Teil dieser Schöpfung, d.h. ein Geschöpf ist. Dem ist offensichtlich nicht so, denn, so klärt uns Paulus auf, alles was ist (gr. panta) ist durch ihn überhaupt erst geschaffen worden, er ist „vor aller Schöpfung“ (vgl. auch den Johannesprolog). Das gleiche gilt für die Bezeichnung als „Erstgeborener der Toten“: Jesus kann offensichtlich nicht einer unter vielen anderen Toten sein, denn die hiermit gemeinte Auferstehung betrifft ihn anders als uns. Er ist, wie der Hymnus sagt, „der Ursprung“: Durch ihn, wegen ihm, in ihm gibt es überhaupt eine Auferstehung - er ist das Leben (vgl. Joh 11,25). Wie Christus zur Schöpfung steht, so steht er auch zu unserer Auferstehung und so steht er auch zu den „Brüdern“, d.h. zur Kirche: Er ist „der Ursprung“, der Schöpfer, das „Haupt“. Jesus ist so wenig Bruder unter Brüdern, wie er Toter unter Toten oder Geschöpf unter Geschöpfen ist.

Die Aussage von Röm 8,28-30 ist eschatologisch, d.h. sie zielt auf eine Klärung des Verhältnisses zwischen Jesus und den „Erwählten“ im Zustand der Vollendung, nicht auf eine Qualifizierung Jesu als „unser Bruder“, zumal er auch nie so genannt wird. Wenn entsprechend dieser eschatologischen Perspektive die Einheitsübersetzung hier sagt, die Jünger Jesu seien von Gott dazu erwählt, „an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben“ (Röm 8,29), dann ist das zwar nicht falsch, aber doch eine unzureichende Übersetzung. Eigentlich steht hier etwas viel Großartigeres: Wir sollen dem Bild des Sohnes gleichgestaltet werden. [Anmerkung für die theologischen Nerds: Paulus gebraucht mit eikon den selben Terminus, den die Septuaginta im Schöpfungsbericht verwendet. Er meint ein Ebenbild oder Abbild (wie etwa die Büste einer berühmten Persönlichkeit). Der Völkerapostel redet zudem nicht von „Teilhabe“, wie die EÜ meint. Das Wort „Teilhabe“ klingt nach einer Geschäftsbeziehung und impliziert wohl kaum eine Veränderung dessen, der an etwas teilhat. Paulus gebracht das Verb symmorphus, dem das Verb morphoo zugrundeliegt, was soviel wie formen, gestalten, modellieren meint. Dem liegt wiederum das Substantiv morphe zugrunde: Form, Gestalt. Es geht also wirklich um eine Umformung des Menschen nach dem (Vor)Bild des Sohnes, geradezu eine Gleich-Gestaltung mit ihm, nicht um die bloße Teilhabe an etwas.] Diese Redeweise des Paulus erinnert nicht zufällig an den ersten Schöpfungsbericht am Beginn der Bibel, wo der Mensch nach dem „Bild“ Gottes geschaffen wird (vgl. 1Mose 1,26). Paulus geht es freilich um eine neue Schöpfung, nicht um eine Wiederholung der ersten, wie er an anderer Stelle sehr schön sagt: „… wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung“ (2Kor 5,17; vgl. 1Petr 1,23; Offb 21,5). 
Der zuvor zitierte Kolosserhymnus zeigt eindrücklich die Verschränkung der Verheißung von der neuen Schöpfung mit der Hoheitswürde des Erstgeborenen“ im Denken des Paulus: Jesus ist in jeder Hinsicht der Erstgeborene, weil er Abbild Gottes ist und weil er vor aller Schöpfung war. Paulus betrachtet Jesus also keineswegs als einen „Bruder unter Brüdern“. Als „Erstegborener“ ist er vor und über aller Schöpfung und auch vor und über den „Brüdern“. Die Aussage des Paulus in Röm 8,29 geht aber auch was Jesu Jünger angeht weit über jede „Brüderlichkeit“ hinaus: Es geht um die Gleichgestaltung derer, die „berufen“, die „im Voraus erkannt und erwählt“ wurden, mit dem ewigen Sohn des Vaters. Die Gläubigen, die den Willen Gottes erfüllen, – so lehrt das ganze Neue Testament – sollen in der Vollendung an der Hoheit und Würde des Erstgeborenen teilhaben, an der „Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind“ (Hebr 12,23).


Aber hat nicht Jesus seine Jünger als „meine Brüder“ bezeichnet? Gewissermaßen:
»Mt 12,48 Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? 49 Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Siehe, meine Mutter und meine Brüder. 50 Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.«

Offenkundig spricht Jesus hier metaphorisch, wenn er hier familiäre Vokabeln benutzt. Die „Jesus unser Bruder“-Advokaten meinen das aber durchaus nicht metaphorisch, sondern sehr realistisch, nicht selten sogar politisch.
Würde man jedoch aus dieser Stelle ableiten, dass wir uns zu Recht als „Brüder und Schwestern“ Jesu bezeichnen können, dann müssten wir uns konsequenter Weise auch als „Mutter und Vater“ Jesu bezeichnen... Dem ist natürlich nicht so, denn es geht Jesus bei dieser Aussage offensichtlich nicht um eine Art von Brüderlichkeit oder gar Ebenbürtigkeit (s.o.), sondern um die Vertrautheit und Verlässlichkeit der Beziehung zu ihm, die in einem übertragenen Sinn geradezu familiären Charakter haben soll. Dies ergibt sich auch daraus, dass die hier von Jesus ausgedrückte familiäre Vertrautheit an eine klare und keineswegs selbstverständliche Bedingung geknüpft ist: Diese Vertrautheit gilt für diejenigen, die entsprechend dem Willen (also auch: den Geboten) Gottes handeln: „Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Erfüllen wir diese Bedingung?


Jesus konnte seinen Jüngern zumindest einmalig die Ehrenbezeichnung „meine Brüder“ zubilligen:
»Joh 20,16 Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister. 17 Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18 Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte.«

Zunächst ist hier eine wichtige Unterscheidung zu treffen, die auch für Mt 12,48-50 gilt: Jesus kann seine Jünger „(meine) Brüder“ nennen, wie er sie auch „meine Freunde“ nennen kann (vgl. Joh 15,14). Umgekehrt finden wir das aber interessanter Weise nie! Nie wurde er von denen, die ihm nachfolgen, als „Bruder“ angesprochen oder als „Freund“ verkündet. Schon im nächsten Vers verkündet auch Maria aus Magdala den Auferstandenen klar als „Herr“.
Die Bezeichnung der Jünger als „meine Brüder“ passt in diesem Zusammenhang, weil der Austausch zwischen dem Auferstandenen und Maria überhaupt von enormer Nähe und Zärtlichkeit geprägt ist. In diesem besonderen Augenblick, dem Höhepunkt der ganzen Offenbarung, wird die ganze Tragweite der Sendung Jesu deutlich: Er ist von der göttlichen Herrlichkeit herabgestiegen und hat sich erniedrigt; und er ist erhöht über alles und jeden (vgl. im Philipperhymnus, Phil 2,8-9). Jesus erweist sich als Hirte seiner Herde, er kennt die Seinen, die die ihn annehmen sind sein Eigentum geworden. Zugleich mit dieser nahen Zärtlichkeit des Erniedrigten tritt daher auch schon die Distanz des Erhöhten in den Blick, den wir nicht „festhalten“ können. In diesem Moment, ausgespannt zwischen Nähe und Ferne, im Moment seiner größten Majestät als „Erstgeborener aus den Toten“ spricht ihn Maria geradezu zärtlich an als „Rabbuni“, wörtlich: „mein Meister“ oder auch „mein Herr“. [Dass der Evangelist Marias Anrede mit „(Lehr)Meister“ (gr. didaskale) übersetzt, braucht nicht zu verunsichern: Mit Abwandlungen von „Rabbi“ können im Grunde alle möglichen hochgestellten Persönlichkeit gemeint sein, die hebräische Silbe rab heißt einfach „groß“.] Diese Anrede Marias erinnert nicht zufällig an das Bekenntnis des Thomas vor dem Auferstandenen kurze Zeit später (Vers 28): „Mein Herr und mein Gott!“ (vgl. Offb 7,14) Und Jesus versichert Maria seiner Liebe, indem er auf ihre zärtliche Anrede hin auch die Jünger in ähnlicher Weise als die „Seinen“ in die größtmögliche Nähe einfasst: „meine Brüder“.


Allgemein lässt sich zum biblischen Befund noch dies feststellen:

Im Blick auf den Vater wird besonders deutlich, dass Jesus sich nie als „Bruder unter Brüdern“ gesehen hat: Er unterscheidet in allen Evangelien stets genau zwischen seinem Vater (z.B. Mt 11,27; Mk 8,38; Lk 2,49; Joh 5,36.43) und unserem Vater (z.B. Mt 5,48; Mk 11,25; Lk 6,36; Joh 8,42). An keiner Stelle spricht Jesus von „unserem (gemeinsamen) Vater“. Besonders krass wird die penible Vermeidung solcher Rede im Munde Jesu in Joh 20,17 spürbar: „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ Sein Verhältnis zum Vater bleibt immer einzigartig, was auch irgendwie logisch ist, denn: „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30) Jesus ist nämlich bezeichnenderweise nicht nur der Erstgeborene (gr. prototokos) vor aller Schöpfung, sondern auch der Einziggeborene (gr. monogenes) vom Vater (vgl. Joh 1,18).

Noch einmal sei es gesagt: Zwar kann Jesus die Seinen in einzigartigen Momenten (jeweils genau ein einziges Mal) als „meine Brüder“ und „meine Freunde“ bezeichnen, aber nirgends in der Bibel kommen die so Benannten auf die Idee, Jesus gleichfalls so anzureden oder zu benennen, oder ihn gar mit solchen Worten anderen zu verkünden. Sie kommen auch nicht auf die Idee, sich selbst als seine Brüder zu bezeichnen. Es besteht eben ein ganz gewaltiger Unterschied, ob nun Jesus seine Jünger in dieser Weise (einmalig) anspricht, oder ob wir uns selbst so bezeichnen oder ihn so ansprechen. Wenn die Bibel die höchste Norm für unser Beten ist, dann sollten wir die Anrede Jesu als „Bruder“ tunlichst unterlassen.


Ein Wort zur Gebetssprache:

Die Bibel bezeugt, dass Jesus im Gebet, auch im Segensgebet, verschieden betitelt wird, etwa als „(heiliger) Knecht“ (Apg 4,30) oder „Sohn des Vaters“ (2Joh 1,3). Vor allem aber ist er der „Herr“ (Hebr 13,20-21). Insbesondere das Gebet, das an Jesus gerichtet ist, gilt ihm stets als dem Herrn: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! […] Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!(Apg 7,59-60) Ganz am Ende der Bibel finden wir schließlich beides zusammen: ein Gebet zu Jesus dem Herrn unmittelbar gefolgt von einem Segensgebet unter Anrufung Jesu des Herrn:Komm Herr Jesus! Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!“ (Offb 22,20)

Die Liturgie der Kirche kennt in ihrem Beten die Anrede oder Bezeichnung Jesu als „(unser) Bruder“ nicht. [Das offizielle, vom Deutschen Liturgischen Institut herausgegebene Buch für Wort-Gottes-Feiern am Sonntag kennt leider die Bezeichnung Jesu als „Herr und Bruder“, aber das zähle ich nicht als „Liturgie der Kirche“, es ist eine lokale (deutschsprachige) Kuriosität mit vielen Mängeln.]
Wenn ein Priester, aus welchen Gründen auch immer, ein Gebet zum Vater mit „… durch Jesus, unseren Bruder und Herrn“ beschließt, könnte man meinen, dass er auch in der Lage sein müsste, ein Gebet zu Jesus ganz selbstbewusst mit „Jesus unser Bruder…“ oder „Bruder Jesus...“ zu beginnen. Das geschieht aber eher nicht, weil es schlicht eine gewaltige Anmaßung wäre. Üblicherweise beginnt ein Gebet zum Sohn mit „Herr Jesus Christus...“ Darin drückt sich nicht bloß Gewohnheit oder Konvention aus, sondern ein gläubiger Instinkt, der genährt ist aus der Bibel und aus der liturgischen Tradition der Kirche.

Die einleitende oder abschließende Betitelung Jesu im Gebet als „unser Bruder“ ist gewiss eine große Anmaßung, die keinerlei biblische Basis hat. Nun könnte man denken, dass die umgekehrte Variante, dass wir nämlich uns selbst im Gebet als Jesu Brüder bezeichnen, eher noch vorkommen kann, denn dafür gäbe es immerhin fast so etwas wie einen biblischen Anhalt, wenn dieser auch in einem besonderen Kontext steht (s.o.). Das scheint zwar auf den ersten Blick weniger aus der Luft gegriffen, ist aber dennoch nicht weniger anmaßend, denn auch dafür gibt es in der Bibel kein echtes Vorbild. Jesus nennt die Seinen zwar einmalig „meine Brüder“, diese bezeichnen sich aber niemals selbst als „Brüder Jesu“! Die Liturgie der Kirche spiegelt auch das wider: Des Öfteren werden andere Gläubige als „unser Bruder/unsere Schwester“ benannt, die der Herr, beispielsweise in der Begräbnisliturgie, in sein Reich aufnehmen möge. Aber nie wird so etwas gebetet wie „Herr Jesus, nimm deinen Bruder XY auf…“ Dagegen wehrt sich der christliche Instinkt, obwohl es scheinbar eine biblische Fundierung gibt. Entsprechend müsste sich dieser Instinkt erst recht gegen die Bezeichnung Jesu als „unser Bruder“ wehren, die noch weniger ein biblisches Vorbild hat.
Schließlich sei noch angemerkt, dass der Sonntag der „Tag des Herrn“ (vgl. Offb 1,10) ist, an dem wir Leib und Blut des Herrn“ empfangen und so den Tod des Herrn verkünden (vgl. 1Kor 11,26-27) ; es ist nicht der „Tag des Bruders“, an dem wir ein „Brudermahl“ feiern. Der Mahlcharakter der Messe, neben dem Opfer, verdeutlicht an erster Stelle die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch.


Zum Schluss. Jesus ist nicht Bruder, er ist Herr:

Die von Bibel und Liturgie einhellig als vorrangig und ersatzlos bezeugte Anrede Jesu als Kyrios – Herr ist weit mehr als nur eine bloß zufällige oder austauschbare Betitelung. Sie ist auch mehr als eine „Hierarchisierung“, die man zu bestimmten Zeiten durch etwas Anderes ersetzen oder milieuspezifisch verflachen kann, damit Jesus irgendwie (aber dann verfälscht) kommunikabel bleibt. Es zeigt sich gerade darin die Vertrautheit, denn die den Herrn erkannt haben und die er erkannt hat, die nennen ihn auch so in ihren Gebeten: „Herr, der du aller Herzen kennst...“ (Apg 1,24) Die Anrede „Herr“ war von Anfang an und ist bis heute vor allem anderen das Bekenntnis der Christen schlechthin: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht [...] damit [...] jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters.“ (Phil 2,9-11) Dass Jesus der „Christus“ und der „Herr“ ist, ist ein wesentlicher Teil der Botschaft von Ostern: „Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.“ (Apg 2,36) Die Anrede Jesu als „Bruder“ offenbart dagegen eine geradezu vorösterliche Sichtweise – nach Ostern wissen wir: „Dieser ist der Herr aller.“ (Apg 10,36)

Im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen wir Jesus als „unseren Herrn“, im Nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis bekennen wir ihn als den „einen Herrn“ (parallel zum „einen Gott“). Das kürzeste und zugleich älteste Glaubenbekenntnis der Christen findet sich im Brief des Apostels Paulus an die Römer: „Herr ist Jesus“ (Röm 10,9; gr. Kyrion Iesun). So sollten wir auch zu ihm beten.

1 Kommentar:

  1. Für mich stehen diese Ausführungen entgegen dem Zeugnis Jesu, dass wir auf ihn hören sollen.
    Mit Nichten gibt es eine Stelle wo Jesus; vor aller Schöpfung bezeugt wird, auch wenn sie (ihr) 2 Stellen findet wo ihr dies reininterpretiert. Jesus nennt uns seine Brüder, sie sagen aber dies ist falsch. Ich sehe es entgegen ihnen als Nachösterliches Sinnen, wo die Herrlichkeit Jesu als dass erkannt wird was sie ist, als Salbung (Gnadengabe) Jesu dass ihn zwar unter uns auszeichnet, ihn aber dennoch uns gleich sein lässt, einen Bruder unter vielen. Leider hat die Konstantinische Philosophie viele dazu gebracht Jesu Worte nicht anzunehmen und gar einen sterbenden Gott zu verkünden (einem Mensch könnte dies Gott nicht auftragen). Viele Worte der Bibel würden euch bezeugen, wolltet ihr darauf hören, dass Philosophie schädlich ist und dass Zeugnisse die Jesus nicht als Menschen bekennen niemals von Gott in den Himmeln stammen können. Mögen viele Jesus als das annehmen zu was ihn Gott berufen hat, damit Jesu Namen unter uns Hoch gehalten wird und kein Trugbild von ihm unter uns (fort) bestehen, darm bitte ich meinen Gott.

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