Mittwoch, 13. Oktober 2021

Keuschheit

Erschaffung Evas (Jim Forest)
Nicht wenige Katholiken, selbst solche, die einen Abschluss in (katholischer) Theologie oder Religionspädagogik vorzuweisen haben, verbinden mit dem Begriff „Keuschheit“ Dinge wie: Verklemmtheit, Entsagung, Zölibat, Leibfeindlichkeit. Keuschheit bedeute, auf Sex zu verzichten, ja sich geradezu selbst zu geißeln [vgl. im Englischen: chastity = Keuschheit; to chastise = züchtigen] und andere zu unterdrücken; sie sei Teil einer mittelalterlichen Moral und ist merkwürdigerweise v.a. „weiblich“ konnotiert. Warum auch immer. Der Begriff wird daher – auf diesem falschen Verständnis beruhend: zu Recht – abgelehnt. Im Folgenden sei versucht, in aller Knappheit und ohne Ausschweifungen in benachbarte Gefilde, aufzudröseln, was dieses kuriose Wort „Keuschheit“ eigentlich meint und warum es seinen schlechten Ruf nicht verdient hat. 
 
 
Was sagt denn die Kirche, was Keuschheit ist? 
 
Der Katechismus der katholischen Kirche (KKK) betrachtet Keuschheit als eine „Tugend und Gabe“ die es ermöglicht „mit aufrichtigem und ungeteiltem Herzen zu lieben“ (KKK 2520). Das ist doch mal etwas in jeder Hinsicht Positives und Wundervolles; das abzulehnen wäre töricht.
 
Dass Keuschheit nicht das Gleiche ist wie der Zölibat, erhellt schon daraus, dass, wiederum dem Katechismus folgend, jeder Getaufte „seinem Lebensstand entsprechend ein keusches Leben zu führen“ gerufen ist (KKK 2394). Also neben zölibatär Lebenden (vgl. KKK 915: „Keuschheit in Ehelosigkeit“) auch Eheleute (vgl. KKK 2365: „eheliche Keuschheit“), Alleinstehende und was es sonst noch gibt – auch homosexuell empfindende Getaufte sind davon nicht ausgenommen (vgl. KKK 2357-59). 
 
 
Keuschheit in der Natur
 
Das deutsche Wort Keuschheit kommt von lat. conscius, was soviel wie bewusst oder selbstbewusst bedeutet; „keusche Sexualität“ ist also vor allem eines, nämlich bewusst gelebte Sexualität, die nicht vom Tosen der Begierden hin und her getrieben, sondern vom Willen geleitet wird. Von der Unkeuschheit gilt daher folgerichtig: „sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Als Tugend ist Keuschheit etwas weltanschaulich Neutrales, sie kann ganz unabhängig von Gott oder christlicher Moral verstanden werden.
 
Eine der vier klassischen, schon in der vor- und außerchristlichen Antike geläufigen Grund- oder Kardinaltugenden ist die Selbstbeherrschung (etwa bei Platon und Cicero). Das griechische Wort dafür ist egkrateia, worin das Stammwort krat steckt, das wir etwa aus dem Wort „Demokratie“ kennen und das Herrschaft oder Macht bedeutet (Demo-kratie: Herrschaft des Volkes, von gr. demos). Die Vorsilbe eg kommt von en, wodurch das Wort egkrateia also eine Herrschaft in sich selbst meint: Selbstbeherrschung. Das griechische Wort kann auch Ausdauer und das Ertragen von etwas meinen. Das Gegenteil ist die Zügellosigkeit (gr. akrasia).
 
Ein besseres, weniger „hierarchisches“ Wort für Selbstbeherrschung mag Mäßigung sein. Hinsichtlich der Nahrungsaufnahme (oder generell des Konsums) ist ihr Gegenteil die Völlerei. Im Blick auf das Geschlechtsleben kann man die Mäßigung präziser als Keuschheit bezeichnen, deren Gegenteil die Wolllust ist. In beiden Fällen geht es, wie das Wort „Mäßigung“ schon nahelegt, nicht einfach um Verzicht, sondern um das richtige Maß und Maßhalten. (Jenes bekannte Diktum des schweizer Arztes Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus, – „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei“ – verallgemeinernd, könnte man sagen: Das Rechte Maß bewahrt vor Schaden.)
 
Die Keuschheit gehört als Tugend zunächst einmal zur Naturordnung, sie ist, wie gesagt, nicht etwas spezifisch „Christliches“ oder gar mittelalterliches. Interessant ist, dass der Katechismus genau von dieser natürlichen Bedeutung ausgeht, wenn er sich dem Begriff der Keuschheit nähert. Die Geschlechtlichkeit „zeigt, dass der Mensch auch der körperlichen und biologischen Welt angehört“ (KKK 2337). Diese Tatsache macht die Sexualität aber nicht zur Sünde oder zu einer Bürde, wie das viele Sekten in der Geschichte behaupteten. Im Gegenteil: Sexualität gehört wesentlich zum Menschen als Abbild Gottes, sie gehört zu seiner Fähigkeit zu lieben und Gemeinschaft zu bilden. „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen.“ (KKK 2333) Dabei handelt es sich aber um eine komplexe Wirklichkeit, sie „berührt alle Aspekte des Menschen in der Einheit seines Leibes und seiner Seele.“ (KKK 2332) 
 
 
Keuschheit in Gesellschaft
 
Keuschheit meint mehr als bloß „Enthaltsamkeit“ im Sinne eines Verzicht auf etwas oder gar im Sinne einer Geißelung, auch wenn sie in der Vergangenheit oft in diese Richtung eingeengt wurde. Angesichts der Komplexität und Bedeutung, die der Sexualität im Menschen als Person aus Leib, Geist und Seele zukommt, kann auch die Keuschheit nicht weniger komplex sein. Die Definition des Katechismus ist hier allerdings auf den ersten Blick etwas sperrig: „Keuschheit bedeutet die geglückte Integration der Geschlechtlichkeit in die Person und folglich die innere Einheit des Menschen in seinem leiblichen und geistigen Sein.“ (KKK 2337)
 
Zunächst fällt auf, dass hier überhaupt nicht von Verzicht oder dergleichen die Rede ist. Die „Integration der Sexualität in die Person“ ist eine rein positive Bestimmung. Sie meint die Harmonie oder Übereinstimmung des sexuellen Empfindens wie des ganz praktischen Sexuallebens mit der Ganzheit der menschlichen Person aus Geist und Leib, also ihre Ordnung gemäß dem Mensch(s)e(i)n, ihre Vermenschlichung: Durch die Keuschheit wird die Geschlechtlichkeit „persönlich und wahrhaft menschlich“ (KKK 2337). Keuschheit bedeutet, noch immer ohne Berücksichtigung des christlichen Glaubens und etwaiger göttlicher Gebote, eine vor dem Wesen des Menschen verantwortete Gestaltung der Sexualität.
 
Dies hat ein doppeltes Moment: Keuschheit ist einerseits ein Schutz der Integrität des Menschen vor Beeinträchtigungen und Schaden. Sie dient der (nicht nur) körperlichen Unversehrtheit, die zu den Grundrechten des Menschen gehört. Andererseits ist Keuschheit auch eine positive, fördernde Kraft.
 
Kleine Umleitung: Das Gegenteil der Keuschheit ist logischerweise die Unkeuschheit. Diese meint nicht nur all das, was ich selbst willentlich gegen meine eigene Keuschheit (Unversehrtheit) – also das rechte Maß der Geschlechtlichkeit – tue, sondern ich kann sie auch erleiden oder anderen zufügen: Mein Nächster hat, genau wie ich, ein Recht auf Keuschheit, wie er ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hat. Somit würde ich mich schuldig machen, wenn ich sie bei ihm beeinträchtige, z.B. indem ich ihn zu unsittlichen Handlungen verführe. Keuschheit ist also nicht nur etwas „für mich“, sondern sie ist auch eine wichtige zwischenmenschliche Angelegenheit und zwar sowohl im negativen Sinne der Abwendung von Schaden, wie auch im positiven Sinne der Förderung eines guten menschlichen Miteinanders. In den Worten des Katechismus: „Die Tugend der Keuschheit wahrt somit zugleich die Unversehrtheit der Person und die Ganzheit der Hingabe.“ (KKK 2337) Meine und die der anderen!
 
Im Kern geht es bei der Keuschheit, wie überhaupt bei der Mäßigung, um Selbstbeherrschung, mit dem Ziel dann fruchtbar und „gesund“ leben zu können. Was im Blick auf die Ernährung jedem einleuchtet, betrifft aber nicht nur diese, sondern die ganze Biologie des Menschen und darüber hinaus auch sein Seelenleben. Und noch einmal geweitet betrifft es nicht nur mich, sondern auch die Menschen um mich herum. Nochmal: Es geht bei der Keuschheit nicht nur um den (negativen) Verzicht zum Schutz vor Schaden, sondern auch um die (positive) Entfaltung für ein gelingendes, „integriertes“, integres Menschsein (lat. integer: unversehrt) – zu dem eben auch die Geschlechtlichkeit gehört: „Der keusche Mensch bewahrt die in ihm angelegten Lebens- und Liebeskräfte unversehrt. Diese Unversehrtheit sichert die Einheit der Person“ (KKK 2338).
 
Selbstbeherrschung, Mäßigung, Keuschheit, können allesamt auch durchaus sehr positiv verstanden werden. Jeder der ernsthaft Sport treibt weiß, dass auch Selbstbeherrschung durchaus kein negatives Wort ist, gerade wenn es nicht nur um Verzicht, sondern um eine positive Entfaltung und Entwicklung geht.
 
Dass Handlungen, die gegen unsere Natur verstoßen, als unkeusch zu betrachten sind, liegt somit nahe. Aber selbst dieser Naturbegriff ist heute nicht mehr selbstverständlich. Die christliche Moral setzt jedenfalls voraus, dass es eine menschliche Identität gibt, die nicht unserem Willen unterworfen, sondern vorgegeben ist, was zur Folge hat, dass auch Dinge, die ich will, gegen mein Menschsein verstoßen können. Mit „Menschsein“ ist hier indes zweierlei gemeint: Mein biologisches, irdisches Sein mit seiner ihm eigenen Würde, und meine gnadenhafte Berufung von Gott her durch die Taufe. Was uns zur spezifisch christlichen Tugend der Keuschheit als einer Gabe führt. 
 
 
Keuschheit in der Bibel 
 
Keuschheit ist auch eine Gabe und eine Gnade (vgl. KKK 2345). Jede Gabe braucht einen Geber: das ist Gott, der Quell aller Gnaden und aller Gaben.
 
Dem oben zum griechischen Begriff egkrateia Gesagten ist noch hinzuzufügen, wie es sich damit in der Bibel verhält. Hier ist dieser Begriff erst relativ spät hineingekommen, da es sich um ein griechisches Wort handelt. Ist er dort auch zunächst eher negativ verwendet (vgl. Sir 18,30: „Folge deinen Begierden nicht, sondern zügle dein Verlangen“), ist er doch bald auch durchaus positiv besetzt, so etwa im 4. Buch der Makkabäer (nicht im christlichen Kanon, aber in der Septuaginta, dem griechischen Alten Testament, enthalten), worin sie als „Freundin“ betitelt und in den größeren Kontext eines (jüdisch verstandenen) gottgefälligen Lebens eingebettet wird: „Nicht belügen will ich dich, du Gesetz, mein Erzieher; nicht dich fliehen, Freundin Selbstbeherrschung, nicht dich schänden, weisheitliebende Vernunft, nicht dich verleugnen, hochwürdiges Priesteramt und Gesetzeswissen.“ (4Makk 5,34-35 [Riessler]) [Ich vermute hier allerdings eine starke Überschneidung mit dem griechischen Wort sophrosyne, was gemeinhin mit „Besonnenheit“ übersetzt wird, manchmal auch mit „Mäßigung“; sie ermöglicht es nach 4Makk 5,23 u.a. „dass wir über alle Lüste und Begierden herrschen“.]
 
Paulus betreibt diese Selbstbeherrschung, wobei hier jenes „sportliche“ Element zum Tragen kommt, die Anstrengung um eines bestimmten Zieles willen: „Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen.“ (1Kor 9,25) Der Begriff kommt im Neuen Testament relativ selten vor, in den Evangelien gar nicht. Dieses Faktum allein sagt jedoch nichts über seinen Stellenwert aus. Zwei Stellen sind für uns besonders interessant:
 
Als Tugend wird die Mäßigung/Enthaltsamkeit/Keuschheit etwa in Apg 24,24-25 erwähnt: „Einige Tage darauf erschien Felix mit seiner Gemahlin Drusilla, einer Jüdin, ließ Paulus holen und hörte ihn an über den Glauben an Christus Jesus. Als aber die Rede auf Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit [egkrateias] und das bevorstehende Gericht kam, geriet Felix in Furcht und unterbrach ihn: Für jetzt kannst du gehen; wenn ich Zeit finde, werde ich dich wieder rufen.“
 
Der Autor der Apostelgeschichte nennt drei Punkte um den „Glauben an Christus“, wie ihn Paulus in diesem Gespräch bekannte, zusammenfassen: Gerechtigkeit, Keuschheit, Gericht. „Gerechtigkeit“ meint hier das sittliche Handeln gegenüber anderen Menschen, „Keuschheit“ das sittliche Handeln an sich selbst, und „Gericht“ das, worauf diese beiden sittlichen Pflichten, wenn sie erfüllt werden, vorbereiten. Das erinnert stark an den jüdischen (aber nicht in der Bibel zu findenden) Aristeasbrief (2. Jhd. v. Chr.), wo es heißt: „Das Tugendhafte Verhalten aber verhindert die Hingabe an ein Genießerleben und heißt Mäßigkeit [egkrateia] und Gerechtigkeit vorziehen. All dies steht aber unter Gottes Leitung.“ (Arist 278 [Riessler]) Die Keuschheit dient für Paulus im Gespräch mit dem Statthalter Felix also zusammen mit der Gerechtigkeit als Zusammenfassung der ganzen christlichen Lebensführung, wie sie sich aus dem christlichen Glauben ergibt. Angesichts dieses Bekenntnisses des Paulus zum christlichen Lebenswandel im Angesicht des Gerichts geraten Felix und seine Frau in „Furcht“ (Apg 24,25) und sie schicken Paulus weg (zurück ins Gefängnis). Diese Reaktion erinnert frappierend an das Vorgehen vieler moderner Theologen...
 
Eine zweite Stelle ist die Abfolge, die der Apostel Petrus für die Glaubensentwicklung in 2Petr 1,5-7 darlegt: „Darum setzt allen Eifer daran, mit eurem Glauben die Tugend zu verbinden, mit der Tugend die Erkenntnis, mit der Erkenntnis die Selbstbeherrschung [egkrateian], mit der Selbstbeherrschung die Ausdauer, mit der Ausdauer die Frömmigkeit, mit der Frömmigkeit die Brüderlichkeit und mit der Brüderlichkeit die Liebe!“
 
Es handelt sich hier um eine sprachliche Ausdrucksform, die im antiken Christentum häufiger begegnet, auch in der Bibel, und die gewissermaßen eine Zusammenfassung der christlichen Ethik bieten möchte. Eine Kurzform davon ist etwa der bekannte Dreipass „Glaube – Hoffnung – Liebe“ (vgl. 1Kor 13,13). Meist ist hier der Glaube an den Anfang gesetzt – denn mit ihm beginnt das christliche Leben – und die Liebe ans Ende – denn in ihr erfüllt es sich, kommt zur höchsten Blüte. (Wobei hier nicht ein Gefühl, die romantische Liebe, gemeint ist, sondern die brüderliche Liebe zu den Menschen und die ergebene Liebe zu Gott; eine Liebe, die sehr wohl per Gebot verordnet werden kann: „Liebt einander!“ und „Liebt Gott!“, vgl. 5Mose 11,13.22; Joh 15,12.17). Für uns ist nun wichtig, dass auch der Keuschheit hier eine wichtige Stellung zukommt. Es ist hier nicht der Raum, allen diesen Begriffen nachzugehen, es genügt zu wissen, dass die Keuschheit ganz zu Recht zwischen der Erkenntnis (darüber, was gut und böse, richtig und falsch ist) und der Ausdauer (oder: Geduld, Standhaftigkeit) eingeordnet wird, denn ohne das Wissen darum, was zu meiden und was zu suchen ist, kann ich nicht keusch leben; zugleich kann ich dem mich versuchenden Andrängen der Welt nicht standhalten, wenn ich dies nicht auch hinsichtlich meiner körperlichen Veranlagung und Bedürfnisse tue.
 
Aus dem geringen Vorkommen der Vokabel egkrateia – insbesondere aus ihrem Fehlen in den Evangelien – und der Tatsache, dass sie erst spät aus dem Griechischen übernommen wurde, wollen nicht wenige Theologen gerne ableiten, dass Keuschheit für das Christentum eigentlich keine Rolle spielt; ja, dass es überhaupt keine Basis für eine christliche Askese gäbe, sondern nur der Glaube oder die Berufung auf Gott gelte (also: Protestantismus). Das ist natürlich Unfug. Jesus hielt offenkundig die Keuschheit für höchst bedeutsam, auch wenn das Wort selbst in den Evangelien nicht aus seinem Mund überliefert ist (warum auch? er hielt schließlich keine Seminare über griechische Philosophie ab!). Seine übertreibende Warnung vor dem Ehebruch (vgl. Mt 5,28: „wer eine Frau auch nur ansieht, um sie zu begehren…“) und die Verschärfung des Scheidungsverbots (vgl. Mt 19,8: „am Anfang war das nicht so…“), sind nichts anderes als konkrete Beispiele für die Anforderungen eines keuschen Lebenswandels. Insgesamt verlangt Jesus also auch im Geschlechtsleben unbedingte Lauterkeit im Tun wie im Denken. Die Ehelosigkeit um des Himmelreiches Willen, als eine Art Hochform der Keuschheit, ist seine ureigene Erfindung – weder im Judentum noch im damaligen Heidentum wäre man je auf einen solchen Gedanken gekommen. 
 
Jesus Christus selbst ist das wichtigste Vorbild und der Maßstab der Christen für einen keuschen Lebenswandel, auch wenn er selbst sie nur in der Form lebte, wie sie den Ehelosen geboten ist. Christus ist der Bräutigam der Seele, darum lässt die Keuschheit „den Jünger Christi erkennen, wie er Jesus nachfolgen und ähnlich werden kann. Jesus hat uns zu seinen Freunden erwählt, sich uns ganz hingegeben und lässt uns an seinem Gottsein teilhaben.“ (KKK 2347)
 
Keuschheit ist dem Neun Testament zufolge also nicht optional, sondern gehört zum Weg des Glaubens dazu. Ein keusches, d.h. das gesunde Maß wahrendes Leben verwirklicht insbesondere die Liebe zu sich selbst im Sinne des zuvor aus Apg 24 zitierten, und damit den letzte Teil des dreifachen biblischen Liebesgebots: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben […] und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27), das auch Paulus und Jakobus aufgreifen (vgl. Röm 13,19; Gal 5,14; Jak 2,8). Die Keuschheit ist schließlich auch eine der Früchte des Heiligen Geistes, die Paulus den Galatern aufzählt: „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit“ (Gal 5,22-23). Paulus scheint hier nicht grundlos die Keuschheit, d.h. die Mäßigung im Geschlechtsleben, als Letzte in einer Reihe von v.a. geistigen Tugenden genannt zu haben, denn er fährt sogleich mit einer „körperlichen“ Metapher fort, wobei für ihn (wie für Johannes) „Fleisch“ auch einfach ein Wort für das Sündhafte, Unchristliche sein kann (im Gegensatz zu „Geist“), was dann körperliche wie geistige Laster meint: „Die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln!“ (Gal 5,24-25) Zu meinen, Keuschheit sei wenig Bedeutsam im Neuen Testament, wenn ein Gutteil der neutestamentlichen Schriften das „Fleisch“ als Gegensatz zum „Geist“ sehen, ist schon ziemlich verquer.
 
„Fleischliche Gesinnung“, Unzucht, Schamlosigkeit, Unreinheit, Gräuel – biblische Gegenbegriffe zur Keuschheit, die wir getrost mit dem Begriff „Unkeuschheit“ zusammenfassen können – sind unbedingt zu meiden. In den Sündenkatalogen tauchen sie immer wieder auf (vgl. Mk 7,21-22), und die Christen sollen auch keine Tischgemeinschaft mit denen haben, die solches tun (vgl. 1Kor 5,11); vielmehr sollen diese Neigungen „getötet“ werden (vgl. Kol 3,5). Paulus stellt daher fest: „Der Leib ist aber nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn“ (1Kor 6,13). Ja, die Unkeuschheit ist für ihn sogar viel gravierender als andere Sünden, gerade weil sie den eigenen Leib betreffen: „Meidet die Unzucht! Jede Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib.“ (1Kor 6,18) Wer der Unkeuschheit verfällt, kann nicht in das Himmelreich kommen (vgl. Eph 5,5; Offb 1,27). Kein Wunder also, dass für Paulus die körperliche Unversehrtheit von der Sünde (= Keuschheit) eine enorm hohe Priorität genießt bis dahin, dass er wünscht, alle würden, wie er selbst, ehelos leben (vgl. 1Kor 7,7). Wobei er weise genug ist zu wissen, dass das Geschlechtliche nicht per se sündhaft ist (s.u.). 
 
 
Keuschheit in der Kirche 
 
Die Keuschheit spielte in der frühen Kirche eine große Rolle, denn sexuelle Freizügigkeit war sicherlich eine der prominentesten Erscheinungen, mit denen sich die Christen damals (wie heute) auseinandersetzen mussten. Das zeigt die große Radikalität, mit der die Keuschheit bis zum völligen Verzicht auf Sex – „um des Himmelreiches Willen“ – geübt wurde, insbesondere in der Form des enthaltsam lebenden Klerus‘ (Enthaltsamkeitszölibat als Vorstufe zum Ehelosigkeitszölibat) und dem nach und nach sich entwickelnden Mönchtum. [Auch hier ist Keuschheit geboten: Der Zölibatär ist nicht asexuell, sondern genauso ein sexuelles Wesen wie alle anderen auch… und darum muss auch er bewusst (keusch) damit umgehen; wer sich für dieses Leben entscheidet, der ordnet seine Sexualität, seinen Eros bewusst so, dass alle seine Liebe auf Gott gerichtet ist.] Zudem gab es sektiererische Abirrungen, wie etwa die Enkratiten (eben von jenem griechischen Wort egkrateia abgeleitet), aber auch Markioniten und andere, die das Leibliche generell unter Verdacht stellten und so Sex grundsätzlich als sündhaft betrachteten – etwas, was die Kirche nie gelehrt hat.
 
Es wurde zuvor erwähnt, dass laut dem Katechismus alle Getauften zur Keuschheit ge- bzw. berufen sind (vgl. 1Thess 4,7). Stellt sich raus, dass dies nicht alles ist: Mit der Taufe geht nach katholischem Verständnis sogar eine Pflicht zur Keuschheit einher (vgl. KKK 2355), sie ist ein Gebot, kein Angebot. Das passt zum dargelegten biblischen Befund. So ist Keuschheit nicht nur die rechte, dem Wesen des Menschen gerecht werdende Gestaltung der Sexualität, sie ist es auch vor dem Angesicht Gottes. Das ist sie aus christlicher Sicht bereits hinsichtlich der Natur des Menschen – denn diese ist von Gott geschaffen –, aber mehr noch und deutlicher (von der nichtchristlichen Umwelt unterscheidend) im Lichte der Gebote, der Berufung und der uns Geschenkten Gaben Gottes. Insbesondere ist hier der Heilige Geist zu nennen: „wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?“ (1Kor 6,19) Weil Christen nicht an ein irgendwie geistiges Nirvana, sondern an die leibliche Auferstehung glauben, ist der Leib heilig zu halten, denn er ist nicht unser Eigentum, Christus hat ihn – d.h.: uns – teuer erkauft, darum fährt Paulus unmittelbar an das zuvor Zitierte anschließend fort: „Ihr gehört nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlicht also Gott in eurem Leib!“ (1Kor 6,19-20; vgl. 7,23) Was ist das anderes, als ein Aufruf zur Keuschheit?
 
Als vom Herrn Erkaufte sollen wir uns selbst und unsere Mitmenschen als Geschöpfe achten, und, so sie Getaufte sind, auch als Miterben am Reich Gottes. Ein rein animalisches Triebleben, das den anderen weder als Mensch, noch als Geschöpf (noch als Christ) ehrt, ist darum immer ein Verstoß gegen die Keuschheit – und zwar der eigenen, wie der des/der anderen. Keuschheit hat ihren ganzen Sinn und Zweck aus christlicher Sicht darin, dass die Sexualität „in die Beziehung von Person zu Person, in die vollständige und zeitlich unbegrenzte wechselseitige Hingabe von Mann und Frau eingegliedert“ wird (KKK 2337). Keuschheit ist das Bewusstsein, dass Sexualität mehr ist als was die Welt (z.B. die Wissenschaft) darüber zu sagen weiß; Sex ist in sich ein „Schöpfungsgut“ (Lust, Sprache der Liebe) und er gibt auch direkt Anteil am Schöpfungswerk Gottes, da bei der Zeugung Gott selbst die Seele des neu entstandenen Menschen erschafft. Daraus erhellt, dass Sexualität ihren Ort nur in der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau haben kann, was von der geschaffenen Natur („als Mann und Frau schuf er sie“) wie von den Geboten Gottes her ohne Alternative ist.
 
Aber ebenso wäre eine vergeistigte, die Natur verachtende Sexualität, die etwa die Freude oder die Befriedigung ablehnt, ein Verstoß gegen die Keuschheit, weil auch das dem von Gott gewollten komplexen Sinn und Ziel der Sexualität widersprechen würde: Das Lustempfinden gehört zur von Gott geschaffenen Natur dazu. Es darf bloß nicht verabsolutiert, d.h. herausgelöst werden aus dem ihm von Natur aus eigenen und gebotenen Kontext. Tatsächlich wäre das Vorenthalten der geschlechtlichen Liebe in der Ehe aus einem ungerechten (z.B. böswilligen) Grund nicht minder ein Verstoß gegen die Keuschheit. Pointiert formuliert: Kein Sex in der Ehe (ohne triftigen Grund) ist ein Fall von Unkeuschheit. Darum mahnt Paulus die Eheleute: „Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeit lang, um für das Gebet frei zu sein! Dann kommt wieder zusammen“ (1Kor 7,5).
 
So wird deutlich: Keuschheit ist nicht leibfeindlich. Sie ist, richtig verstanden, die höchst mögliche Leibfreundlichkeit, weil sie diesen Leib als zum Wesen des Menschen (als Geschöpf Gottes) gehörend anerkannt und heiligen will. Der Leib „gehört“ nicht dem Menschen, ein Mensch „hat“ nicht einen Leib, sondern er „ist“ dieser Leib (und der Geist und die Seele). Genau darum ist der Leib genauso zu achten, zu schützen, aber auch zu lieben wie der Mensch insgesamt. Ich bin überzeugt: Keine Religion oder Philosophie oder sonst ein Gedankengebäude in der Geschichte der Menschheit nimmt den Menschen als Ganzen so ernst und schätzt ihn so hoch, wie die katholische Sexualmoral, in deren Kern der Ruf zur Keuschheit steht. Siehe „Theologie des Leibes“. Wahre Liebe ist immer keusch, sei es die Freundschaft (Agape; vgl. KKK 2347), aber auch und gerade die erotische Liebe (Eros).
 
Keuschheit ist nicht eine irgendwie bloß nachgeordnete Tugend, auch wenn ihr insbesondere in den Ermahnungen Jesu und der Apostel stets etwa die Nächstenliebe vorausgeht. Sie ist, wie bereits dargelegt, vielmehr ein essentieller Ausdruck der Selbst- und Nächstenliebe, „eine Schule der Selbsthingabe. Die Selbstbeherrschung ist auf die Selbsthingabe hingeordnet.“ (KKK 2346) Dadurch hat die Keuschheit zugleich, wie jeder wahre Dienst der Liebe, einen deutlichen Verweischarakter auf Gott: „Die Keuschheit lässt den, der ihr gemäß lebt, für den Nächsten zu einem Zeugen der Treue und der zärtlichen Liebe Gottes werden.“ (KKK 2346) Wenn die Unkeuschheit vom Reich Gottes ausschließt, so verheißt die Keuschheit ewiges Leben (vgl. KKK 2347). Da wir uns das ewige Leben aber nicht eigenmächtig „verdienen“ können wird hier auch deutlich, warum die Keuschheit als Gabe bezeichnet wird: Wie die Liebe von jenem Gott kommt, der die Liebe selbst ist (vgl. 1Joh 4,8), so ist auch die Keuschheit von Gott geschenkt und eine Gnade zu unserem Heil; was natürlich, wie bei jeder Gnade, nicht unsere menschliche Mitwirkung aufhebt (s.u.).
 
Schließlich ist kaum zu leugnen, dass jeder Getaufte nicht nur für seine eigene Keuschheit zu sorgen hat, sondern auch die Unversehrtheit anderer achten und schützen soll, soweit es an ihm liegt; auch das ist ein Dienst der Nächstenliebe. Eine konkrete Lektion, was diese doppelte Dimension der Keuschheit betrifft, bietet Paulus im Blick auf die Ehe an, wenn er schreibt: „Das ist es, was Gott will: eure Heiligung – dass ihr die Unzucht meidet, dass jeder von euch lernt, mit seiner Frau in heiliger und achtungsvoller Weise zu verkehren, nicht in leidenschaftlicher Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen“ (1Thess 4,3-5). 
 
 
Keuschheit und Scham 
 
Nach dem Philosophen Max Scheler ist die Scham das „Gewissen der Liebe“, die jede Verzweckung und Berechnung der Sexualität meiden hilft und zu ihrer Humanisierung beiträgt. Sie kommt damit der Keuschheit sehr nahe, nur dass es sich bei der Scham um eine natürliche, quasi instinktive Anlage im Menschen handelt, die schon bei kleinen Kindern auftritt, während das, was wir hier Keuschheit genannt haben, eine willentliche Handlungs- und Denkweise meint: „Die Keuschheit ist eine persönliche Aufgabe; sie erfordert aber auch eine kulturelle Anstrengung […]. Die Keuschheit setzt die Achtung der Menschenrechte voraus, insbesondere des Rechtes auf Bildung und Erziehung, welche die sittlichen und geistigen Dimensionen des menschlichen Lebens berücksichtigen.“ (KKK 2344)
 
Scheler zufolge ist die Scham nicht, wie gemeinhin behauptet wird, anerzogen, sondern es ist im Gegenteil die Schamlosigkeit, die anerzogen wird, und ebenso die falsche Scham (Prüderie); beides verhindert echte Liebe, Partnerschaft und Hingabe. Das rechte Schamgefühl gehört zu einem gesunden Menschen natürlicherweise dazu, während es beim Tier fehlt. Man hat einen absichtlichen Abbau des Schamgefühls mit der Beeinträchtigung des Immunsystems verglichen, womit wir wieder beim Recht auf Unversehrtheit wären.
 
Für den Theologen Helmut Thielicke bilden Scham und Erkenntnis eine Einheit, da die Geschlechtlichkeit ein Geheimnis sei, das nicht unrechtmäßig enthüllt werden dürfe, um nicht verletzt zu werden. Ähnlich heißt es im Katechismus: „Die Schamhaftigkeit schützt das Geheimnis der Personen und ihrer Liebe. Sie lädt zu Geduld und Mäßigung in der Liebesbeziehung ein; sie verlangt, dass die Bedingungen der endgültigen Bindung und wechselseitigen Hingabe von Mann und Frau erfüllt seien.“ (KKK 2522) Darum ist es so überaus sinnig, dass in der biblischen Sprache „erkennen“ ein Ausdruck für den Geschlechtsakt ist. Erkenntnis meint hier nicht das empirische, aufklärerische Erlangen von Wissen, sondern das innere, existentielle Sich-Erkennen zwischen zwei Personen in ihrer ganzen Würde und ohne Abstriche, weswegen beispielsweise künstliche Empfängnsiverhütung unzulässig ist: „Ich gebe mich dir hin und nehme dich an, ohne etwas auszuschließen, auch nicht unsere jeweilige Fruchtbarkeit.“
 
 
Die Keuschheit „ermöglicht, mit aufrichtigem und ungeteiltem Herzen zu lieben“ (KKK 2520), sie führt „zu einer Gemeinschaft im Geist.“ (KKK 2347)

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