Donnerstag, 3. September 2015

Wahrheit und Mehrheit

Ein Kommentator schrieb neulich (hier, runterscrollen):  
»es geht darum, dass die innersten und ehrlichsten Überzeugungen der vernünftigen Mehrheit der Christen (bspw. dass Homosexualität anders als man früher dachte wohl doch nicht in sich böse ist) ein Indiz dafür sind, was in der kath. Kirche als richtig zu gelten hat und welche Lehrmeinung sich durchsetzt.
Also nicht Akkomodation i.S. einer bequemen, widerstandslosen Übernahme irgendeines Zeitgeistes. Sondern Zurkenntnisnehmen der Wahrheit, die (auch) in der allg. Überzeugung der Mehrheit der vernünftigen und gutmeinenden Christen zum Ausdruck kommt.«

Meine Erwiederung sah zunächst so aus:
»Dein Denkfehler liegt darin begründet, dass du "Mehrheit" mit "Wahrheit" gleichsetzt. Das ist Irrsinn. Mehrheit bringt hier überhaupt nichts. Die Mehrheit lebte in Sodom und Gomorra verdammungswürdig. Die Mehrheit warf sich vor dem goldenen Kalb nieder. Die Mehrheit der Israeliten fiel immer wieder von Gott ab. Die Mehrheit wählte, ganz demokratisch, nicht nur in unserem Land einst einen Diktator zum Staatschef.«

Man könnte diese Aufzählung noch beliebig erweitern und z.B. erwähnen, dass "die Mehrheit" der Zuhörer Jesu bei der Eucharistierede in Joh 6 sich danach von ihm abgewendet haben. Man könnte darauf hinweisen, dass "die Mehrheit" gerufen hat "Kreuzige ihn!"...
Man könnte sodann darauf Hinweisen, dass Jesus immerzu vor dem Weg der Mehrheit gewarnt hat (breite Straße, weites Tor). Es gibt wirklich nichts in der Verkündigung Jesu oder in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, das die These stützen könnte, wonach es eine Korrelation zwischen Mehrheit und Wahrheit gibt. Stattdessen finden wir überall das genaue Gegenteil. Übrigens auch zu Hauf in der Kirchengeschichte.

Der Grund, warum Mehrheit niemals Wahrheit schaffen kann, ist offensichtlich, und ich habe dies in meinem Blogbeitrag Dürftige Theologie - 17 - Vom Be-Urteilen mittels einer rhetorischen Frage zu verdeutlichen versucht: "Oder glaubt denn irgendwer ernsthaft, dass wir gegenwärtig in einer Gesellschaft leben, die im Einzelnen wie im Gesamten so heil(igmäßig) ist, dass sich der Wille Gottes in der "Lebenswirklichkeit" der Menschen kundtut?"
Nichts anderes wird nun aber von jenem Kommentator (und er ist damit in der theologischen und pseudo-theologischen Landschaft in Deutschland alles andere als allein) vorgeschlagen.

Der Grund, warum Mehrheit niemals Wahrheit schaffen darf, ist ähnlich simpel: Weil die "Meinung der Mehrheit" (auch dann, wenn man sie pathetisch als "innerste und ehrlichste Überzeugung" exaggeriert) niemals die Meinung der Mehrheit ist, sondern die Meinung des erfolgreichsten Populisten (bzw. dessen mit dem lautesten Organ). Denn die meisten Leute haben keine Ahnung von den komplexen Sachverhalten, um die es geht - sei es nun Wirtschaft, Politik, oder Theologie - und müssen sich darum dem Redelsführer anschließen, von dessen Parolen sie sich am ehesten gemeint fühlen oder den sie am sympathischsten finden. 
Mehrheiten fallen, auch wenn der Kommentator das Gegenteil behauptet, nicht vom Himmel: Mehrheiten werden immer von Menschen gemacht.

Appropos: Was ist denn eigentlich eine "vernünftige Mehrheit"? Wer bestimmt darüber, wer vernünftig ist? Wer fällt denn darunter? Etwa die Mehrheit der Theologen in unserem Land, die wesentliche Glaubensinhalte leugnet? Die Mehrheit der Pfarrer, die ihren Schäfchen die kirchliche Morallehre schlichtweg vorenthalten, um sie nicht zu verschrecken und die routinemäßig kirchliche Gesetze und ihr eigenes Weiheversprechen durch "Liturgie Marke: Eigenbau" brechen? Die Mehrheit der Katholiken, die sich nach Jahrzehnten des Bildungsmangels als erstaunlich ignorant gegenüber der kirchliche Lehre erwiesen haben? (Vgl. dazu hier.)
Und wer ist "gutmeinend"? Wer urteilt darüber? Sind die Piusbrüder gutmeinend? Sind die Verfechter der kirchlichen Lehre gutmeinend? Sind die Theologieprofessoren gutmeinend, die offen gegen die Lehre der Kirche wettern? Oder sind nur die gutmeinend, die sich als Gutmenschen gerieren? 
Die Frage ist letztlich: Wer hat die Macht, wer entscheidet? Auch wenn es um die Suche nach "Mehrheit" geht, erst recht, wenn man diese Mehrheit erst noch qualifiziert (z.B. als "vernünftig" und "gutmeinend"). Wer definiert, wer bestimmt?

Schließlich ist es doch wohl auch so, das muss man sich ehrlich eingestehen: Würde man hierzulande unter den Katholiken eine Umfrage machen nicht bezüglich moralischer Fragen (mit erwartetem Ergebnis), sondern bezüglich wesentlicher Glaubensinhalte (letztes Gericht, Realpräsenz in der Eucharistie etc.), würde man feststellen, dass die "Mehrheit" völlig inkompetent ist über irgendetwas dem Glauben oder der Moral Zugehöriges zu entscheiden, selbst wenn das überhaupt nur möglich wäre.


Nein, also sorry: Wer glaubt, per Mehrheit ließe sich Wahrheit feststellen, der nimmt weder die Bibel, noch die Geschichte, noch die conditio humana irgendwie ernst.
Ein solches Prinzip, das heute ironischerweise die theologische Mehrheitsmeinung (zumindest in Deutschland) ist, steht dem Glauben an eine Offenbarung Gottes und damit dem christlichen Glauben als ganzem, diametral entgegen: Als Jesus die Menschen lehrte und ermahnte, da hat er eben nicht gefragt: "wie hättet ihr's denn gern?, lasst uns mal darüber abstimmen", sondern er hat ihnen gesagt wie es ist. Ebenso die Apostel, ebenso die Kirche.
"Mehrheit" hat mit "Wahrheit" nichts zutun, meistens steht jene im Widerspruch zu dieser. Blumiger kann man das nicht sagen.

Die Formulierung des Kommentators "was in der kath. Kirche als richtig zu gelten hat" offenbart den zugrundeliegenden Irrtum sehr anschaulich: Einer "Mehrheit" geht es tatsächlich nur darum, was ihr "als richtig gilt"... aber das kann morgen schon von etwas anderem abgelöst werden, was dann der "Mehrheit" "als richtig gilt". Der Kirche aber geht es um die Wahrheit, und die kann sich per definitionem nicht ändern. Wahr ist etwas, weil es richtig ist, nicht bloß, weil es zufällig gerade für richtig gehalten wird.
Ich persönlich halte da zu Johannes:
»Für euch gilt: Was ihr von Anfang an gehört habt, soll in euch bleiben; wenn das, was ihr von Anfang an gehört habt, in euch bleibt, dann bleibt ihr im Sohn und im Vater. Und seine Verheißung an uns ist das ewige Leben. Dies habe ich euch über die geschrieben, die euch in die Irre führen.« (1Joh 2,24-26)

PS. "... und welche Lehrmeinung sich durchsetzt"... Es gibt nur eine Lehrmeinung, nämlich die des Lehramtes; alles andere sind bloß Meinungen.

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für Ihre fundierten und erhellende Beiträge. Sie sind ein Leuchtturm in dieser verwirrten Zeit.

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