Samstag, 12. Februar 2022

Wahrheit ist wichtiger als Einheit

[Es] ist eine Gefahr in der Kirche weit verbreitet [...].

Wir meinen die Auffassung, dass Einheit wichtiger sei als Wahrheit, dass gleichsam ein Schisma ein größeres Übel sei als das Eindringen von Häresien in die Kirche. Hier wird der Friede unter den Gläubigen als so wichtig betrachtet, dass, wenn die orthodoxen Katholiken ihre Stimme zur Verteidigung des depositum catholicae fidei erheben gegen diejenigen, die die Botschaft Christi neu interpretieren und ihres übernatürlichen Gehaltes berauben wollen, diese von vielen Prälaten als unliebsame Ruhestörer angesehen werden. Darauf müssen wir mit Pascal erwidern:

„Ist nicht deutlich, dass, ebenso, wie es ein Verbrechen ist, den Frieden zu stören, wo die Wahrheit regiert, es ein Verbrechen ist, im Frieden zu bleiben, wenn man die Wahrheit zerstört? Es gibt also Zeiten, wo der Friede gerecht ist und andere, wo er unrecht ist. Es steht geschrieben, es gibt Zeiten des Friedens und Zeiten des Krieges, und das Gesetz der Wahrheit ist es, das hier entscheidet. Es gibt aber nicht Zeiten der Wahrheit und Zeiten des Irrtums, und im Gegensatz hierzu heißt es in der Schrift, dass die Wahrheit Gottes ewig sein wird. Und deshalb sagt Jesus Christus auch, der gesagt hat, dass er den Frieden bringen will, dass er gekommen ist, den Krieg zu bringen. Er sagt aber nicht, dass er gekommen ist, die Wahrheit und die Lüge zu bringen. Die Wahrheit ist demnach die erste Richtschnur und das letzte Ziel der Dinge." (Pascal: Gedanken 949)

Die Einheit über die Wahrheit zu stellen, ist ein fundamentaler Irrtum; überdies kann die wahre Einheit nur in der Wahrheit gefunden werden. Jede Gemeinschaft setzt einen einenden Güterbereich voraus. Nur wenn dieser Bereich einen wahren Wert besitzt und nicht einen illusorischen oder gar einen Unwert, kann er eine wahre Einheit bilden, eine concordia, die in sich wertvoll ist. Das hat schon Aristoteles in seinem Kapitel über Freundschaft (8. und 9. Buch der Nikomachischen Ethik) klar gesehen. Die Einheit, die auf der Gottesfeindschaft aufgebaut ist, ist keine wahre Einheit, sie verbindet nicht wahrhaft, so wenig wie die Einheit einer Verbrecherbande. Der Wert der Einheit hängt unlöslich von dem Wert des einenden Gutes ab. Jede wahre Einheit setzt, wie gesagt, voraus, dass das einende Gut in Wahrheit ein Gut und keine Illusion oder kein Pseudogut und erst recht kein negativ-wertiges Idol ist. Mit Recht sagt van Straaten:

„Alle sind um die Einheit besorgt, doch ziehen viele die Einheit der Wahrheit vor und vergessen, dass wahre Einheit nur in der Wahrheit erlangt werden kann. Denn das Gebet Jesu, ,dass alle eins seien', schließt ein, dass sie in Ihm eins seien und darf nicht von seinem andern Wort getrennt werden: ,Ich sage euch: jeder, der nicht durch die Türe in den Schafstall eingeht, ist ein Dieb und ein Räuber ... Ich bin die Türe!'" (Werenfried van Straaten: Monatlicher Rundbrief vom Dezember 1969)

Jede Einheit auf Kosten der Wahrheit ist nicht nur eine Pseudoeinheit, sondern auch im letzten Grunde ein Verrat an Gott. Man stellt die soziale „Bruderschaft", das „Gut-auskommen" und niemand Angreifen über die Treue zu Gott. Ich erinnere mich, dass, nachdem ich in meiner Zeitschrift „Der Christliche Ständestaat" im Jahre 1935 die Haltung mehrerer deutscher Bischöfe dem Nationalsozialismus gegenüber angegriffen hatte, ein katholischer Professor mir sagte: „Wie können Sie so etwas tun! Die Hauptsache ist doch, dass alle Katholiken einig sind - ob für oder gegen Hitler, ist viel weniger wichtig." Das war eine typische Äußerung für das Stellen der Einheit über die Wahrheit und den Kult einer falschen Einheit, der von der Frage der Wahrheit abstrahiert. Das ist das Gegenteil der Haltung all der großen Kämpfer gegen den Arianismus - eines heiligen Athanasius, eines heiligen Hilarius von Poitiers und des heiligen Augustinus in seinem Kampf gegen Pelagianismus und Donatismus.


Aus: Dietrich von Hildebrand, Zölibat und Glaubenskrise, Regensburg 1970, 44-47.

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