Montag, 23. Juli 2012

Theorie und Gewissheit

Zum Thema Evolution.  (<-- Lektüre empfohlen)


Wissenschaft ist nie "fertig", nie allwissend, nie eine allumfassende Erklärung der Wirklichkeit. Man wird niemals alles über alles oder auch nur alles über irgendetwas wissen.
Wenn etwas noch nicht verstanden oder gewusst wird, ist das kein Armutszeugnis für die Wissenschaft, sondern es ist ihr Existenzgrund: Wissenschaft zielt auf das Erlangen von Wissen, sie lebt davon, mit Dingen konfrontiert zu werden, die noch nicht geklärt und verstanden sind. Wissenschaft ist ein Prozess des Lernens und Erforschens. Wenn wir bereits alles wüssten und verstehen würden und sagen würden „so ist es, basta!“, bräuchten wir keine Wissenschaft mehr; in diesem Moment würde sie aufhören zu existieren.

Es gibt keine Dogmen und keine "(letzte) Wahrheit" in der Wissenschaft, nur unterschiedliche Grade der Gewissheit. [Dass sich manche Wissenschaftler, die Rede ist von Individuen!, dennoch manchmal "dogmatisch" an gewissen Dingen festhalten, ist deren Problem; zu den großen Gestalten in der Wissenschaftsgeschichte werden sie nie zählen.]
Darum verändern sich Theorien auch ständig: sie bleiben nie stehen und unumstößlich. Wissenschaft ist immer „vorläufig“! Alles was die Wissenschaft uns sagen kann ist, was wir gegenwärtig, bis jetzt, und bis hierhin wissen.

Dennoch gibt es so etwas wie „gesichertes Wissen“, dessen Hinterfragung philosophisch interessant sein mag, naturwissenschaftlich aber wenig Sinn ergibt, da wir darauf aufbauen, es schlicht funktioniert und wir konkret damit Arbeiten. Beispiele für solch gesichertes Wissen sind etwa: die Existenz von Viren und Bakterien, die Bewegung der (runden!) Erde um die Sonne, die Aussagekraft von Spektralanalysen, die Existenz von DNS, die Evolution der Lebewesen, das Alter der Erde und des Universums von einigen Milliarden Jahren, die Existenz von Bielefeld [diese Beispiele habe ich mit Bedacht gewählt, da für jedes von diesen es irgendweche Spinner gibt, die diese Aspekte der Wirklichkeit nicht anerkennen], die Existenz subatomarer Teilchen, die Grundprinzipien der Aero- und Aquadynamik, die Existenz von Magnetismus usw. usf.

Aber auch dieses "sichere Wissen" ist nie "fertig", "ewig" oder "absolut" (s.o.), sondern hat ganz einfach nur den höchsten Grad an Gewissheit den man überhaupt nur erreichen kann und unterliegt zugleich dennoch ständig der Erweiterung, Verfeinerung und Vertiefung und zuweilen auch der Korrektur. Ein recht aktuelles Beispiel für so eine Korrektur von "gesichertem Wissen" ist z.B. dies: Bis vor zwei Jahren (oder so) glaubte man, dass nur eukaryotische Zellen (d.h. Zellen mit Zellkern, also z.B. Tiere und Pflanzen) ein Cytoskelett besitzen (Wikipedia hilft) und es war geradezu ein Teil der Definition von procaryotischen Zellen (d.h. Zellen ohne Zellkern: Bakterien und Archaeen), dass diese kein Cytoskelett haben... heute weiß man, dass Procaryoten immerhin über zum Cytoskelett der Eucaryoten homologe (d.h. in ihrer Funktion ähnliche) Strukturen verfügen.

Eine wissenschaftliche Theorie kann nie endgültig positiv bewiesen werden, sie muss aber gleichzeitig empirisch falsifizierbar (widerlegbar) sein; sprich, sie muss Möglichkeiten offerieren, wie es möglich ist, sie zu widerlegen. Das bedeutet, dass eine Theorie solange "wahr" ist, wie ihre Voraussagen zutreffen und wir nichts finden, was ihr Widerspricht. Das Fehlen von positiven Belegen ist nicht gleich eine Widerlegung der Theorie. Eine Widerlegung wäre es, wenn man ein Phänomen fände, welches den Aus- bzw. Voraussagen der Theorie widerspricht, die Theorie also falsifiziert. Auch wenn eine Therie etwas nicht erklären kann, ist das keine Widerlegung der Theorie: Unter der Voraussetzung, dass das bisher unerklärte Phänomen in die Zuständigkeit der in Frage stehenden Theorie fällt, bewährt sich jede(!) Theorie gerade dadurch, dass sie auch zuvor unbekannte Fakten erklärt. Tut sie es nicht, wird sie eben modifiziert, sodass sie die Fakten erklärt. Es sei denn, jemand hat eine ganz neue und viel bessere Idee. So funktioniert Wissenschaft.

Die Theorie der Evolution in ihrer Gegenwärtigen Fassung ist vielfältig falsifizierbar. Aber es wäre z.B. nicht besonders gravierend, wenn wir nur wenige "Übergangsfossilien" für die Evolution der Säugetiere aus den Reptilien finden würden (zumal wir zweifelsfreie genetische Beweise haben). Eine absolute Katastrophe wäre es für unser bisheriges Verständnis der Geschichte des Lebens, wenn wir z.B. ein  600 Millionen Jahre altes Fossil von einem Säugetier finden würden! (Zur Erklärung: vor 600 Millionen Jahren gab es noch kein tierisches Leben an Land, geschweige denn Reptilien oder Säugetiere.)
Das präkambrische Karnickel ist der Alptraum aller Paläontologen! ;)


Das schon bekannte Lied: "Evolution" verhält sich zu "Spezies" wie "(embryonale) Entwicklung" zu "Individuum"; beides sind allem Leben immanente Prinzipien die für unser Verstehen (einer Spezies oder eines Individuums) unerlässlich sind. [Manchmal verwende ich den Begriff "Entwicklung" synonym mit "Evolution", der Kontext sollte für die nötige Klarheit genügen: man kann zwar auch bei Populationen und Spezies' von "Entwicklung" reden (eben synonym zu "Evolution"), aber man kann nicht bei Individuen von Evolution sprechen - Individuen evolvieren nicht!]

Der Grund, warum wir uns mit "Wachstum" viel leichter anfreunden können als mit "Evolution" liegt einzig in der Tatsache begründet, dass Evolution meist nicht zu den Alltagserfahrungen gehört, da sie i.d.R. viel größere Zeiträume benötigt und wir Menschen nicht lang genug leben, als dass es uns auffallen könnte. Die Entwicklung etwa der plazentalen Säugetiere (Katze, Elefant, IchundDu, Wal etc.), ausgehend von ihren Reptilienvorfahren, hat viele Millionen Jahre gedauert (ein paar "Zwischenschritte" dieser Entwicklung können wir heute noch in den Kloakentieren, etwa dem Schnabeltier, oder den Beutelsäugern, z.B. dem Koala, besichtigen)... 
Aber nur weil ein Vorgang lange dauert, heißt das nicht, dass er nicht real ist. Radioaktiver Zerfall dauert zuweilen verdammt lange, die Entstehung von Planeten dauert lange... ja um Himmels Willen: Das Wachstum mancher Bäume dauert viel länger als ein Menschenleben!


To be continued...

2 Kommentare:

  1. Ich ergänze noch eine Frage: Wie verwendest Du den Begriff "Wissenschaft"?

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    1. Im englischen Sinne: "Science" bezeichnet im Unterschied zu "humanities" nur das, was wir im Deutschen "Naturwissenschaften" nennen. Danke für die frage, werde ich beim Nächsten Teil berücksichtigen.

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