Dienstag, 24. Juli 2012

... mitten im fruchtbaren Land

»Führe mit deinem Stab dein Volk auf die Weide, die Schafe, die dein Erbbesitz sind, die einsam lagern in einer Wildnis mitten im fruchtbaren Land. Sie sollen wieder im Baschan und in Gilead weiden wie in den Tagen der Vorzeit.« (Micha 7,14)


So heißt es heute in der Lesung. Weil unser Pfarrer das in seiner Predigt tangiert hat, will ich das etwas auswalzen. Ich bin kein Altphilologe und stütze mich dabei auf Wörterbuch und Interlinearübersetzung, konstruktive Kritik ist also willkommen. 

Merkwürdigerweise wird dieser Vers (v.a. der erste Satz) fast immer so und damit falsch übersetzt. Soweit es sich für mich erschließt, steht im hebräischen Text aber nichts von "Einsamkeit".
Das Hebräische בָדָ֔ד (badad) heißt einfach nur "für sich" oder "selbst". Es geht eher um eine, salopp gesagt, "Selbstgenügsamkeit" oder ein Für-sich-sein; es geht ganz sicher nicht um Einsamkeit! (Die Schlachter 2000 Übersetzung macht daraus immerhin "abgesondert", was aber auch nicht viel positiver klingt.)
Es steht auch nicht im Original, dass die Herde auf die Weide geführt werden soll, sondern die Herde soll geweidet werden oder auf der Weide geführt werden. Schließlich: Warum man ya'ar mit "Wildnis" übersetzt hat (was auch wieder so einen negativen, bedrohlichen Klang hat), statt mit "Wald" (was in der biblischen Sprache Abundanz ausdrückt), ist mir schleierhaft... ich finde so eine Übersetzung sonst nirgends.

Sinnerhaltend übersetzt würde der Satz wohl eher heißen:
»Weide mit deinem Stab dein Volk, die Schafe, die dein Erbbesitz sind, die für sich lagern im Wald [mitten im fruchtbaren Land]...«

Das ergibt schon ein ganz anderes Bild! Und jetzt versteht man auch, warum da vom fruchtbaren Land die Rede ist: Das Ganze ist nämlich eine durchweg positive Vision des Propheten. Er konstatiert nicht erst einen Missstand (was "Einsamkeit in der Wildnis" impliziert) und die Notwendigkeit eines zukünftigen "auf die Weide geführt werdens", sondern er beschreibt einem glücklichen Zustand: Die Herde ist in dieser Vision bereits auf der Weide! Das "Leben im fruchtbaren Land" (in der EU als Hendiadyoin) ist in der biblischen Sprache ein Leben bei und mit Gott; mit Einsamkeit hat das nichts zu tun.


Nachtrag: Joseph Franz Allioli (der mit der "Allioli-Bibel") übersetzt es auch recht schön (allerdings aus der Vulgata): "Weide dein Volk mit deinem Stabe, die Herde, dein Erbe, die besonders Wohnenden, im Walde mitten auf dem Carmel; laß sie weiden auf Basan und Galaad wie in den alten Tagen.« (Biblia Sacra, 1894)

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