»Das Zweite Vatikanische Konzil steht heute im Zwielicht. Von sog. progressiver Seite wird es seit geraumer Zeit als vollständig überholt und so als eine jetzt nicht mehr belangvolle Sache der Vergangenheit betrachtet. Von der Gegenseite wird es umgekehrt als Ursache des gegenwärtigen Verfalls der katholischen Kirche angesehen und als Abfall vom Vaticanum I wie vom Tridentiner Konzil gewertet. Es steht unter Häresieverdacht. Konsequenterweise wird seine Rücknahme oder eine Revision verlangt, die der Rücknahme gleichkommt.
1) Beiden Richtungen gegenüber ist zunächst festzustellen, daß das Vaticanum II von derselben Autorität getragen ist wie das Vaticanum I und das Konzil von Trient, nämlich dem Papst und dem ihm verbundenen Bischofskollegium; daß aber auch in haltlich das Zweite Vaticanum sich engstens an die beiden vor ausgegangenen Konzilien anschließt und sie an entscheidenden Punkten wörtlich übernimmt. Daraus ergeben sich zwei Thesen:
a) Es ist unmöglich, sich für das Vaticanum II und gegen Trient und Vaticanum I zu entscheiden. Wer das 2. Vaticanum bejaht, so wie es sich selbst eindeutig geäußert und verstanden hat, der bejaht damit die gesamte verbindliche Tradition der katholischen Kirche, insonderheit auch die beiden vorangegangenen Konzilien.
b) Es ist ebenso unmöglich, sich für Trient und Vaticanum I, aber gegen das Vaticanum II zu entscheiden. Wer das Vaticanum II verneint, verneint die Autorität, die die beiden anderen Konzilien trägt und hebt sie damit von ihrem Prinzip her auf. Jede Auswahl zerstört hier das Ganze, das nur als unteilbare Einheit zu haben ist.
2) Es ist unbestreitbar, daß die letzten zehn Jahre für die katholische Kirche weitgehend negativ verlaufen sind. Statt der erhofften Erneuerung haben sie einen fortschreitenden Prozeß des Verfalls mit sich gebracht, der sich weitgehend im Zeichen der Berufung auf das Konzil abgespielt und dieses damit immer mehr diskreditiert hat. Es muß klar gesagt werden, daß eine wirkliche Reform der Kirche eine eindeutige Abkehr von den Irrwegen voraussetzt, deren katastrophale Folgen mittlerweile unbestreitbar sind. Was das Vaticanum II anbelangt, so kann es in seinen amtlichen Aussagen nicht für diese Entwicklung haftbar gemacht werden, die ihm vielmehr von Grund auf widerspricht und sehr komplexe Ursachen hat. Richtig ist allerdings, daß sich schon während des Konzils ein Konzils-Ungeist zu entwickeln begann, der vom Konzil zu trennen und ebenso zu verabschieden wie dieses zu behalten ist. Die Erfahrungen des nachkonziliaren Jahrzehnts können so dazu verhelfen, Geist und Ungeist deutlicher zu scheiden, als es damals geschah; sie können dazu helfen, das Konzil auf seine spirituelle und theologische Mitte hin zu leben und zu vertiefen.
3) Was dieser notwendige Prozeß einer vertiefenden Aufnahme des Konzils durch die Kirche bedeutet, soll an drei Brennpunkten des nachkonziliaren Dilemmas verdeutlicht werden.
a) Die Öffnung der Liturgie für die Volkssprachen war begründet und berechtigt; sie ist auch vom Tridentiner Konzil, als Möglichkeit ins Auge gefaßt. Ebenso ist es schlechthin unwahr, zu behaupten, die Ausbildung neuer Kanon-Formulare widerspreche dem Tridentiner Konzil. Wie weit die einzelnen Schritte der Liturgiereform wirkliche Verbesserungen oder eher Banalisierungen waren, wie weit sie pastoral 'klug oder töricht oder rücksichtslos waren, muß hier dahingestellt bleiben. Klar ist, daß auch bei der Vereinfachung und bei der möglichst verständlichen Fassung der Liturgie das Mysterium des Handelns Gottes im handeln der Kirche und damit die unmanipulierbare Vorgegebenheit des Kerns der Liturgie für Priester und Gemeinden wie ihr gesamtkirchlicher Charakter unangetastet bleiben müssen. Daher muß weit entschiedener als es bisher geschehen ist, rationalistischer Verflachung, geschwätzigem Zerreden und pastoraler Unreife entgegengetreten werden, die die Liturgie zum Gemeindekränzchen degradiert und sie auf Bild-Zeitungs-Verständlichkeit herunterschrauben will.
Auch die geschehenen Reformen, besonders im Bereich des Rituale, werden unter solchen Gesichtspunkten überprüft werden müssen.
b) Die starke Betonung des Bischofsamtes durch das Vaticanum II entsprach ebenso der gesamtkirchlichen Tradition wie den Absichten des Vaticanum I (vgl. DS 3112-3116). Aber es wird darauf zu achten sein, daß die zunehmende Institutionalisierung der Bischofskonferenzen nicht die persönliche Verantwortung des Bischofs für die ihm anvertraute Teilkirche erdrückt. Diese persönliche Verantwortung ist der kirchlichen Verfassung von Anfang an wesentlich; die Konferenz hat nur praktische, aber keine eigentlich theologischen Gründe. Das Wesen der Kirchenverfassung würde verfälscht, wo an die Stelle der persönlichen Verantwortung des Bischofs ein System träte, das ihn zum Vertreter der Konferenz degradiert und die Verantwortung auf anonyme bürokratische Institutionen übergehen läßt. Ebenso muß entschieden dem Einbruch nationalistischer Tendenzen bzw. überhaupt der Gefahr neuer Kollektive und ihrer gegenseitigen Abschließung entgegengetreten werden, die sich im Gefolge der nachkonziliaren Dezentralisierung an vielen Stellen abzeichnet. Der antirömische Affekt ist ein schlechter Ratgeber; die konkrete Einheit mit Rom ist nach dem Aufbau der Bischofskonferenzen noch wichtiger als zuvor.
c) Das Konzil war im Recht, als es eine Revision des Verhältnisses von Kirche und Welt erstrebte. Dieses Verhältnis war zum Teil noch durch mittelalterliche Entwürfe bestimmt, die in einer tief gewandelten Welt längst nicht mehr der Wirklichkeit entsprachen. Aber eine konfliktlose Verschmelzung von Kirche und Wel zu erstreben, heißt das Wesen von Kirche und Welt verkennen. Das Christsein kann sich nicht dem Annehmbarkeitsdenken einer jeweiligen Epoche einordnen; der Christ muß sich gerade heute darauf einstellen, daß er einer Minderheit zugehört und daß er weitgehend im Widerspruch steht zum „Schema dieser Welt", wie Paulus sagt (Röm 12,2). Der Annehmbarkeit für die Welt setzt der Christ die Urteilsfähigkeit der gläubigen Vernunft entgegen. Fähigkeit und Mut zum Widerspruch, Kraft zum Annehmen einer Minderheitssituation einzuüben, wird zu den dringendsten Aufgaben des christlichen Weltverhältnisses in den nächsten Jahren gehören — in Abkehr von dem Trend der nachkonziliaren Euphorie, der gerade hier sich besonders gründlich verirrt hatte.«
Thesen zum Thema: Zehn Jahre Zweites Vatikanisches Konzil. —
(Vorgetragen als Gesprächsgnmdlage bei der Podiumsdiskussion
der internationalen katholischen Zeitschrift „Communio" am
21.9.1975 in München, und entnommen dem „Regensburger
Bistumsblatt" vom 9.X1 75, Nr. 45, S. 7.)
Zitiert aus: Theologisches, Nr. 69 (Januar 1976), S. 6f. Klickmich (PDF). Hervorhegungen von mir.
PS. Ja, liebes kath.net, ihr dürft, wie ihr das schon das letzte Mal getan habt, als ich einen größeren Text von J. Ratzinger zitiert habe (nämlich hier), gerne diese Umbruch- und Scan-Fehler-bereinigte Version kopieren und bei euch reinstellen, diesmal habe ich auch keine erläuternden Anmerkungen eingefügt, die ihr vergessen könntet, herauszunehmen. ;)
Sehr aufschlussreicher und schöner Text; dass Ratzinger schon 1975 so etwas schrieb, ist interessant und zeugt von programmatischen Beharrungsvermögen. Die Kernaspekte (Zugehen auf Konzilsskeptiker, Bremsen der Konzilseuphorie, Einschärfen der Kontinuitätshermeneutik) waren ja schon exakt dieselben wie 2009, obwohl die Rahmenbedingungen damals ganz andere waren.
AntwortenLöschenNatürlich müsste man jetzt dazu auch betrachten, was Joseph Ratzinger in den Jahrzehnten dazwischen geschrieben und vor allem getan hat, er war ja praktisch über 30 Jahre in Rom der Chef.
Das Fazit fällt dann wohl gemischt aus, meine ich. Ganz sicher nicht so negativ, wie es Ratzingergegner gern darstellen, die ihm seine "Rolle Rückwärts" vorwerfen. Mit dem Vorwurf an sich haben sie ja recht, aber ob das im Endeffekt für die Kirche mehr Schaden als Nutzen gebracht hat, ist nicht so klar zu beantworten, wie es die "Progressisten" gern hätten. Ein ungebremster Progressismus hätte womöglich noch schädlicher gewirkt oder wäre viel zu einseitig geworden.
Fakt ist natürlich auch, dass das Bremsen eben nur ein Bremsen war und kein Richtungswechsel, wie er wohl auch Ratzinger eine Zeitlang vorschwebte und wie ihn vor allem seine Anhänger herbeisehnen. Das zeigt ja auch die gegenwärtige Debatte um die Familienpastoral, wo im Prinzip nur alte Hausaufgaben gemacht werden, die zu seiner Zeit geblockt waren.
Ob das wirklich so schlimm ist, weiß ich nicht. Dass die Kirche sehr langsam und schwerfällig ist und erst nach langem Hin-und-her zu einer Entscheidung kommt, diese dann nochmal mehrere Generationen überdenkt, wieder zurücknimmt, nochmal neu trifft usw., ist eigtl. nicht neu und auch im Grunde kein Bug, sondern eher ein Feature.
Beim letzten Konzil war es natürlich ein wenig extrem, weil sich der Druck im Kessel vorher so lange angestaut hatte, dass eine unkontrollierte Kesselexplosion unmittelbar bevorstand und der Dampf nur noch mit Mühe auf dem kontrollierten Wege durch das Ventil eines "Pastoralkonzils" entweichen konnte. Durch dieses etwas extreme Dampfablassen geriet das ganze Schiff ein wenig ins Schlingern. Ratzinger hat sicherlich aus dem Nachhinein betrachtet einen extrem wichtigen Beitrag dazu geleistet, es trotz des Schlingerns auf Kurs zu halten, auch wenn er natürlich nicht der einzige war und oft auch überzogen hat bzw. überziehen musste, um gegenzusteuern. Alles in allem eine große Leistung. Auch wenn es am Ende wie ein Scheitern wirkte, unter dessen Eindruck wir vielleicht heute stehen, wird von Joseph Ratzinger ganz viel für immer in der Kirche bleiben.
Klar ist aber mittlerweile auf jeden Fall, dass weder das Aggiornamento der 70er Jahre noch die Rolle Rückwärts der 90er irgendeinen Einfluss auf den Glaubensschwund in den westlichen Gesellschaften gehabt haben. In dem Sinne sind beide Rezepte gescheitert. Hier hilft nur beten und an Rahners Prophezeiung denken.