Sonntag, 5. Oktober 2014

Die Wahrheit über das Gewissen

Eigentlich wollte ich eine Weiterführung und Auffächerung meiner vorherigen Ausführungen über das Gewissen (hier und v.a. hier) anlässlich des Starts der außerordentlichen Versammlung der Synode in Rom schreiben, da dieser Themenkomplex bei allen "heißen Themen" immer wieder gerne heranzitiert wird.
Ich fand aber schnell, dass meine noch so wohl reflektierten Worte nur Staub und Schatten sind im Vergleich mit den eher grob behauenen Gedankenfragmenten, die Ida Friederike Görres kurz vor ihrem Tod aufgezeichnet hat (sie starb, bevor sie die Manuskripte für die Drucklegung redigieren konnte).
Darum lasse ich statt meiner Wenigkeit, diese große Frau sprechen (vgl. dazu auch die weiterreichende Analyse der Görres hier). Im übrigen zeigen die einzelnen Aspekte eines sehr gut auf: Seit über 40 Jahren drehen sich die Aufbrüchler und Forderer innerhalb wie außerhalb der Kirche im Kreis... es gibt nichts Neues zu vermelden, die Irrtümer sind noch die selben.
Über das Gewissen:  
»"Das verantwortliche, reife, wohlinformierte, alle Umstände berücksichtigende, den Mahnworten und Ratschlägen des wahren Freundes immer offene Gewissen..." las ich kürzlich. O, daß wir es besäßen! Aber wie kommen wir eigentlich dazu? Wächst es uns wie Nägel und Haar? Finden wir unser "inneres Auge" so natürlich vor wie das leibliche Augenpaar und funktioniert es so von selbst wie dieses?
Wer sich selbst und andere nur ein wenig nüchtern betrachtet, merkt bald, daß das angeborene und von der Umwelt bestimmte Gewissen bei vielen Menschen an einen Stadtplan erinnert, auf dem ganze Viertel, viele Straßennamen einfach fehlen. Das heißt: wir reden meist von einem kompletten und tadellos funktionierendem Idealgewissen; aber das wirkliche reagiert sehr oft nur stück- und strichweise. [...]
Sigrid Undset, die geniale Psychologin, läßt in ihrem Roman "Ida Elisabeth" eine gescheite junge Frau bemerken: "Ungefähr alle Menschen, die ich kennengelernt habe, sagten, man müsse seinem Gewissen folgen. Und ich habe nie gesehen, daß sie es ernstlich gehindert hätte, den weg zu gehen, den sie gerne gehen wollten. Nur mein Vater, glaube ich, bekam nicht die richtige Zustimmung von seinem Gewissen - darum setzte er es auch unter Alkohol".
John Henry Newman, so gerne als Herold des "freien und mündigen" Gewissens zitiert, mahnt uns in seinem ganzen Werk immer zur Redlichkeit in diesem Punkte und betont, wie schwer die innerliche Wahrheitsfindung uns fällt. [...]

Newman würde sich, wie man sagt, im Grabe umdrehen, wenn manche Leute ihn heute als Vorkämpfer eines gegen kirchliche Autorität stolz protestierenden Gewissens im Munde führen: Er, dessen ganze Gewissens-Theologie darin wurzelt und gipfelt, daß es eben die Eintritts-Pforte einer Autorität außerhalb meiner ist, des Ganz Anderen, des Höchsten Herrn, des göttlichen Gesetzgebers, der in meinem Bewußtsein einen Gehorsam fordert, strenger und genauer als irgend ein Mensch es dürfte; daß ich im Spruch meines Gewissens gerade NICHT meine eigene Stimme vernehme, die meiner Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Proteste, sondern eine andere, die ALS andere, ja oft schrecklich fremde, unbegreifliche in meiner Herzmitte kund wird, ein Gesetz verkündend, das nicht von mir gesetzt ist und an dem ich deshalb nicht rütteln und biegen und dehnen darf, bis es mir paßt.

Die Kirche: in unserem Zusammenhang hier also das Lehramt, die offizielle Moraltheolgie, hat dem Gewissen seine Magna Charta geschenkt: "Auch dem irrenden Gewissen ist jederzeit zu folgen" - ein Eckstein unseres Glaubens, für den wir nicht dankbar genug sein können. Aber - so ist nun einmal der Mensch: er kann dem redlich, naiv, aus echter unverschuldeter Unwissenheit oder Fehl-Erziehung irrenden Gewissen etwas ganz anderes Unterschieben: nämlich ein künstlich irrendes, dessen Irrtum ich selber still und heimlich erzeuge, indem ich an dieser zartesten Waage solange mit Gründen und Einwänden bei Zwielicht herumbastle, bis es endlich nach meinem Wunsch ausschlägt. Ja, das gibt es. Das freie und mündige Gewissen ist ein göttliches Ur-Geschenk, das hohe kostbare Organ der Wahrheitsfindung, durch viele Generationen geschult und verfeinert, damit auch der Einzelne in seiner Einsamkeit oder bei allgemeiner Verwirrung sein Tun in Einklang zu bringen vermöge mit dem göttlichen Gesetz, so gut er es eben kann. Aber: die Anlage kann auch leise und listig umgemodelt werden zu einem raffinierten Winkeladvokaten meiner Selbstsucht, einem dressierten Sklaven, der mich in jeder peinlichen Lage möglichst vom Gesetz zu dispensieren hat, mich mit höchst einleuchtenden Entschuldigungen zu versorgen und schließlich in hundert Variationen den einen, nie ausgesprochenen Grundsatz zu verwirklichen: im Zweifelsfall ist stets das richtig, was ich lieber möchte.
Ist nicht jeder von uns ein Genie der Ausrede, Frauen wie Männer, wenn es ernstlich darauf ankommt?«


Oft hört man (auch von Kardinal Kasper in dem hier verlinkten Interview) das Mantra von "aber wenn sie sich doch lieben"... dann soll auch das, was Jesus unmissverständlich "Ehebruch" nennt (s. Link), legal sein. Dazu wiederum die Görres:
»In [Sigrid Undsets] prachtvollen Roman-Trilogie, "Kristin Lavranstocher", einer der bedeutendsten Liebes-Dichtungen der Weltliteratur, bedenkt Kristin: "... alle die Sünden, die im Wesen der Liebe liegen: Trotz und Ungehorsam, Härte und Unversöhnlichkeit, Eigensinn und Hochmut..." Und an anderer Stelle: "Sie hatte gefühlt, wie ihre Liebe ihren Willen verhärtete, bis er scharf und hart war wie ein Messer, bereit, alle Bande der Verwandtschaft, des Christentums, der Ehre zu zerschneiden..." Diese Stelle hat mich schon beim ersten Lesen sehr betroffen. Denn seine kühle Nüchternheit hebt sich verblüffend ab gegen eine der weitest verbreiteten Aussagen des Zeitgeistes: daß nämlich, was immer ein Mensch "aus Liebe" (im Eros-Sexus-Sinn) tut, schon deshalb gerechtfertigt sei, schon deshalb kein Unrecht mehr sein könnte. Tragische Wunschvorstellung! Die Verharmlosung der Liebe zu einem puren Ausdruck der schönen Seele ist ein unbewußtes Erbe einer Späterfindung des neunzehnten Jahrhunderts mit seinem Hang zur Schönfärberei. Die Gegenwart, so stolz auf ihre Redlichkeit vor dem Wirklichen, sollte sich endlich wieder davon freimachen. Schon die Griechen haben es anders gewußt: "Kein Wunder ist's, wenn Eros Menschen tötet und grause Wunden schlägt wie in der Schlacht -"
Nicht einmal der ernsthafte Anlauf zur Gottesliebe, den wir Frömmigkeit nennen, macht den Menschen sofort und unmittelbar gut. Wissen wir denn nicht, was aus echter, nicht heuchlerischer, religiöser Leidenschaft schon verbrochen worden ist? Und im Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit? Wundert uns das? Die großen Leidenschaften: des Geschlechts, der Liebe, der Heimatliebe, der Religion erschüttern uns eben "bis auf den Grund". Aber in dieser Tiefe finden sich eben nicht nur Perlen, sondern auch Schlamm und Ungetüme.«


Über die Bequemlichkeit, auch der kirchlichen Morallehre gegenüber, schreibt sie:
»"Nur das Mögliche verpflichtet" ist ein andrer trostvoller Eckstein katholischer Moraltheologie, auf den wir uns gegen Überforderung stützen dürfen. Aber wie erkenne ich, wo für mich die Grenze des wirklich Unmöglichen liegt? In der Forschung, in der Technik, im Sport wird sie durch Versuch, durch Übung, durch Beharrlichkeit und Hoffnung immer weiter vorgerückt. Nie liegt sie auf der Linie der Bequemlichkeit, des Ausweichens, des geringsten Widerstandes.«

(Quelle: I. F. Görres u.a., Der gewandelte Thron; Hervorhebungen im Original)

3 Kommentare:

  1. Die Gewissensdebatte wollte ich schon länger mal wieder aufnehmen. Hab es aber leider trotz mehrfacher Anläufe (sogar verschiedener Vornotizen, die ich aber nie gepostet habe, meist weil sie einfach zu lang geworden sind ... ;-) nie geschafft, da nochmal ernsthaft und treffsicher auf deine Artikel zu dem Thema einzusteigen.

    Du hattest mich damals in krasser Missdeutung meiner Aussagen in die Schublade derjenigen gesteckt, die "das heute gängige Bild" des Gewissens (im Sinne einer schöpferischen Totalautonomie oder einer "Entschuldigung für alles" etc.) vertreten. Nun tue ich ja gerade das nicht, sondern erläutere die klassische, auf Abälard und Thomas aufbauende und nicht zuletzt als Folge der diesbezgl. Fehlentwicklungen in der Inquisitionszeit (der sog. "Gewissensgehorsam" des 13.-15. Jh.) in der Kirche durchgesetzt Lehre, die von den kath. Moraltheologen der vergangenen Jahrhunderte stets vertreten worden ist.
    Ich war deswegen nicht gerade gekränkt, aber etwas resigniert, weil du mich offensichtlich gar nicht verstanden hattest. Die eigentliche Dynamik zwischen dem vorgegebenen objektiv Guten und dem dieses als solches erkennenden subjektiven Gewissen hattest du scheinbar nicht begriffen.

    Das spiegelt sich in deinen Artikeln zum Thema: Du verwendest sehr viele ausgezeichnete Zitate, die alle exakt dasselbe sagen, was ich auch gesagt habe, und schreibst dann am Ende das Ggt. Das finde ich ärgerlich, zumal deine Artikel auch von einigen verständigen Bloggern wie z.B. @Tarquin als gute Referenz der korrekten Lehre vom Gewissen empfohlen worden sind. Das sind sie aber leider - und bei allem Respekt für die tolle Leistung, die übrigens ein Zeichen dafür ist, dass auch du mit dem Gewissen um die richtige Einsicht ringst - wirklich nicht ;-)

    Deshalb fände ich einen Austausch hierzu wichtig. Du verkennst m.E. immer noch die Grundfrage, nämlich dass die Entscheidung nicht heißt "gehorchen oder nicht gehorchen", sondern "gut oder böse handeln".

    Und die Instanz, die darüber urteilt, was gut und was böse ist (und was du dementsprechend zu tun und zu lassen und wann du zu gehorchen und wann nicht zu gehorchen hast), liegt eben weder außerhalb des Subjektes (das ist dein Fehlschluss) noch ist sie mit dem Subjekt identisch (das wäre der "autonomistische" Fehlschluss, der im Grunde ganz relativistisch/konstruktivistisch davon ausgeht, die Wahrheit sei ein rein subjektives - oder allenfalls intersubjektiv verhandelbares - Konstrukt und im Prinzip für jeden eine andere).
    Sie (diese Instanz) besteht vielmehr aus dem *im Subjekt verankerten* "Ruf des Gewissens", der "Stimme Gottes" oder dem "Gesetz", das dem Menschen "ins Herz geschrieben" ist, wie Paulus sagt. Das ist der Ort, wo Gott dich anspricht und dir klar macht, was richtig ist und was falsch.
    Das bedeutet keineswegs, dass man selber festlegen könnte, was richtig und falsch ist, sondern eben nur, dass Gott keinen äußeren Umweg (über Normen, Vorgesetzte, Dogmen, Bischöfe, Mehrheitskonsens oder was auch immer) nimmt, um dich auf dem richtigen Weg zu führen, sondern dich zuletzt immer als Person in deinem Inneren anspricht. Und nur dieser Befehl gilt unbedingt, alle sonstigen Befehle, völlig egal von wem, sind nur bedingt verpflichtend (nämlich unter der Bedingung, dass dein Gewissen zustimmt).

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  2. (Forts.)
    Deshalb kann es nach christlichem Verständnis gar keine Urteilsinstanz über dem Gewissen geben, völlig egal, was man da anführt. Das heißt nicht, dass die Wahrheit nichts Vorgegebenes wäre. Aber nur im vernünftigen Gewissen lässt sich erkennen, was im moralischen Sinn richtig und wahr ist und wem man im Urteilen und Handeln tatsächlich zu folgen hat.

    Gewissenloser Gehorsam (in sittlichen Dingen) ist Sünde. Hier liegt der Unterschied des sittlichen Gehorsams (und analog nat. ebenso des Glaubensgehorsams) zum rein funktionalen (bspw. militärischen) Gehorsam, wo man einfach blind gehorchen und möglichst nicht selbst denken soll, damit das System funktioniert. Das gibt es bei moralischen Urteilen nicht, auch nicht in der Kirche.

    Vor wenigen Wochen hatte ich zufällig ein paar Kommentare bei @Cicero dazu geschrieben, da geht es um genau diesen Punkt, wenn du magst, kannst du die ja mal anschauen (http://katholon.de/?p=7301). Das Bild von den Borg ist in dem Zshg. wichtig: Die Borg-Drohne setzt Anweisungen korrekt aber gewissenlos um. Sie ist kein sittlich handelndes Subjekt und kein Vorbild für den Gläubigen, weil die Kirche eben kein Borg-Kubus ist. Das Gewissen ist kein Drohnen-Betriebssystem, sondern eine autonome Instanz, in der sich Gottes Stimme dem Gläubigen mitteilt. Wie immer der Hinweis, dass diese korrekte kath. Gewissenslehre gerade in den betr. KKK-Nummern ganz hervorragend auf den Punkt gebracht ist.

    Und deshalb ist auch übertriebene Skepsis unangebracht, die Gewissensentscheidungen als fehleranfällig und im Kern willkürlich unter Generalverdacht stellt. Natürlich sind Gewissensentscheidungen sehr fehleranfällig (deshalb müssen wir das Gewissen ja bilden und vor allem wahrhaftig auf unser Gewissen hören, ohne in den von Görres gut beschriebenen Trick mit dem *künstlich* irrenden Gewissen zu verfallen) und von außen nicht durchschaubar, aber es gibt eben keine andere Instanz als das Gewissen, die uns die letzte Entscheidung darüber, was wir richtigerweise zu tun haben, abnehmen könnte.

    Deshalb ist das vernünftige Gewissen bei aller von Görres geschilderter Anfälligkeit für Irrtum, Selbsttäuschung und vorgeschobene Entschuldigungen (beeindruckend ist v.a., wenn sie auf die erschreckende Tatsache hinweist, was Menschen - gerade auch Christen, man denke wieder an die Inquisitionszeit - alles mit klarem Gewissen für gruselige Dinge verbrochen haben) so unverzichtbar als die allerhöchste und unhintergehbare Instanz, die *über* bzw. (wie ein Wächter) *vor* allen von außen an dich herangetragenen Forderungen und Imperativen steht (selbst denen, die das Lehramt selber setzt), auch wenn du da vllt. wieder Bauchweh bekommst, aber so isses nunmal.

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  3. (Vom Denzingerkatholen hieher gelockt.)

    Der letzte Absatz der Görres ist ja schön. Ich müsste ihn fast auswendig lernen. Bin aber zu bequem dazu. ô_o

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