Mittwoch, 1. August 2012

Evolution ist ein Baum

Das letzte Mal haben wir uns mit der konkreten Frage nach der Erfassbarkeit der Vergangenheit beschäftigt (vorherige Lektüre ist empfohlen). Im Prinzip wird uns das noch eine Weile beschäftigen, aber auf ein etwas andere Weise. 

Einer der Hauptgründe, warum wir die Vergangenheit tatsächlich erfassen und in gewissem Maße (bzw. Maßstab) rekonstruieren können ist zugleich auch der Grund, warum wir Astronomie und Kosmologie betreiben können, es ist eine Prämisse auf der alle Naturwissenschaft beruhen muss, ansonsten ist das meiste was sie treibt sinnlos: Die Naturgesetze, wie sie jetzt und hier (auf der Erde, im Pazifik, im Wald, im Labor etc.) gelten, müssen auch in der Vergangenheit gelten, und zwar überall. Praktischerweise ist dieser Grundsatz eine christliche (bzw. semitische) Erfindung. In einem animistischen Weltbild, in dem die Welt ständig von Geistern und Dämonen beherrscht/manipuliert/gesteuert wird, oder in einem Polytheismus, in dem die Welt Schauplatz von Götterzwist ist, würde man nicht auf diesen Gedanken kommen können, da die Welt eben nicht immer und überall nach erfassbaren Naturgesetzen (soweit es die Naturwissenschaft betrifft: "autonom") funktioniert, sondern ihre Regeln ständig durchbrochen und verändert werden.

Wir können also etwas über die Vergangenheit wissen, wenn wir uns die Gegenwart anschauen: So wie das Leben (Vererbung, Veränderung, Mutation, Selektion etc.) heute funktioniert, wie wir es beobachten können, so muss es auch in der Vergangenheit funktioniert haben (man spricht hier von "Aktualismus").
Und so lässt sich dann das was wir beim letzten Mal behandelt haben, namentlich die Beobachtung von gewissen "Mustern" im Auftreten und in der Anordnung von Fossilien, erklären.

Wir erinnern uns, dass die Geschichte der modernen Evolutionsforschung damit begann, dass man anhand der Geologie erkannte, dass die Erde sehr alt sein muss und dass in dieser sehr langen Geschichte ganz gewaltige Veränderungen geschehen sind. Konkret auch an den Lebewesen die diese Erde bevölkerten.
Wie kann man sich das vorstellen? Zunächst müssen wir ein paar Missverständnisse beseitigen:
Die meisten Menschen, wenn sie "Evolution" hören, denken dabei etwas wie "Oh, der Mensch stammt vom Affen (gemeint ist oft ein Schimpanse) ab". Das Problem dabei ist nicht so sehr, dass wir eben nicht vom Schimpansen abstammen (sondern einen gemeinsamen Vorfahren mit den Menschenaffen haben). Problematisch ist das grundlegende Konzept, das hinter dem Begriff "Evolution" vermutet wird. Es herrscht die Annahme, Evolution meine eine Stufenleiter der Entwicklung von Lebewesen: von einfachen Bakterien, zu Würmern, zu Fischen, zu Amphibien, zu Reptilien, zu Säugetieren und schließlich zum Menschen. Das ist ziemlich falsch, hat sich aber irgendwie festgesetzt. Evolution ist keine Kette oder Leiter vom Einfachen zum Komplexen. Evolution ist ein Baum. Evolution meint einfach "Abstammung mit Veränderung", und das geschieht auch parallel in alle verfügbaren Richtungen, denn Leben wird nach und nach jeden erreichbaren Lebensraum besiedeln, jede noch so kleine Nische kolonisieren, denn wo immer eine Lücke ist, wird früher oder später ein Organismus den Weg hinein finden um dort sein Überleben mehr oder weniger ungestört sichern zu können. 


Einfaches Beispiel: Ich sehe meinem Bruder ziemlich ähnlich, denn wir haben einen direkten gemeinsamen Vorfahren ("Mama"); wir teilen uns also die Hälfte unseres Erbmaterials, nämlich die Hälfte, die wir von unserer Mutter bekommen haben. Meine Cousins sehen mir schon nicht mehr so ähnlich, denn unser gemeinsamer Vorfahre liegt weiter zurück (meine Oma mütterlicherseits); wir haben noch ein Viertel unserer Gene gemeinsam. 

Gerade haben wir die Ebene von Individuen behandelt und was ich mit "gemeinsamen Genen" meinte sind freilich die wenigen Teile unserer DNA, die uns (biologisch gesehehn) als Individuen unterscheiden (was auf wirklich winzigen Veränderungen beruht: 99,9% unserer DNA haben wir mit allen Menschen gemeinsam). Das selbe Prinzip funktioniert auch in einem größeren Maßstab, nämlich auf der Ebene von verschiedenen Arten und Familien (Link zur Lektüre empfohlen!): Katzen und Hyänen haben recht große Ähnlichkeiten, da sie recht nah verwandt sind (zu den Katzenartigen gehören), während Hunde und Katzen sich mehr unterscheiden, denn sie gehören nicht der selben Familie an. Beide haben aber im Vergleich etwa mit einer Eidechse wiederum große Ähnlichkeit, da sie beide zur Klasse der Säugetiere gehören und eine Eidechse bekanntlich ein Reptil ist.
Wenn wir artübergreifend von genetische Ähnlichkeiten sprechen, dann sind hier andere Größenordnungen gemeint als innerhalb einer Art: Mit dem Schimpansen haben wir etwa 98% unserer Gene gemeinsam, mit einer Maus etwa 95%, mit einer Fliege etwa 50% usw. Je nach Verwandtschaftsverhältnis also: je weiter entfernt, desto weniger Gemeinsamkeiten. Es ist das gleiche Prinzip wie innerhalb einer (menschlichen) Familie. Wer den genetischen Nachweis der Verwandtschaft zwischen Mensch und Maus leugnet, muss, wenn er konsequent sein will, auch die Aussagekraft eines Vaterschaftstests leugnen.
Jetzt wird auch klarer was ich oben mit dem Baum statt der Leiter meinte: Wir stammen nicht von einem Schimpansen ab, sondern der Schimpanse und wir haben einen gemeinsamen Vorfahren. Ebensowenig stamme ich von meinem Cousin ab, sondern mein Cousin und ich haben einen gemeinsamen Vorfahren. Diese Baumstruktur hat auch zur Folge, dass kein existierendes Lebewesen „weniger entwickelt“ ist als ein anderes. Auch der Mensch ist nicht „mehr entwickelt“: er und seine DNA haben keinen längeren Weg hinter sich als die jedes anderen Lebewesens. Alle rezenten Spezies haben eine ebensolange evolutionäre Geschichte hinter sich wie wir. Wir sitzen alle auf den jüngsten Trieben des Baumes der Evolution, die Entwicklung ist nur auf jeder neu abgezweigten Vererbungslinie anders verlaufen.
Im Grunde heißt Evolution nur, dass die kleinen Veränderungen, die jeder von uns in seinen eigenen Kindern sehen kann, über große Zeiträume und viele tausend Generationen schließlich zu großen Veränderungen führen. Man kann sich das schwer vorstellen, aber es geschieht mit Notwendigkeit überall um uns herum, manchmal langsamer, manchmal schneller.
Es gibt keinen Punkt, an dem das Eine zum Andern wird... es ist ein gradueller Prozess der aus so winzigen Schritten besteht, dass kein einzelner der Entscheidende ist, aber die schiere Menge dennoch einen gewaltigen Unterschied machen kann.

Zur Veranschaulichung:

Angenommen ich werfe einzelne Sandkörner auf den Boden, was passiert? Sie verteilen sich.
Angenommen, ich werfe viele Stunden lang Sandkörner auf den Boden, immer auf die gleiche Stelle, was passiert? Sie bilden ein kleines Häufchen.
Angenommen ich mache das tagelang, dann hab ich bald einen kleinen Haufen.
Mache ich es viele Jahre, habe ich irgendwann einen Hügel, nach Jahrhunderten einen kleinen Berg und nach Jahrtausenden einen Mount Everest.
Was passiert, wenn ich einem solchen Sandkörnerhügel ein Sandkorn hinzugebe? Wird er dann zum Berg? Oder wird der Hügel zum Haufen wenn ich ihm ein Sandkorn wegnehme? Wo ist der Punkt des übergangs zwischen Haufen, Hügel und Berg (in Sandkörnern gemessen)? Es gibt keinen, wird jeder normal Denkende antworten.
Und genauso ist es mit Evolution und den für sich genommen winzigen Veränderungen der Lebewesen: kleine Veränderungen führen irgendwann zu großen Veränderungen. Der einzige Unterschied ist der zeitliche Rahmen.
  
Wird unmittelbar fortgesetzt.

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