Montag, 24. Februar 2014

Echte Kritik an der Kirche

Beim Schmökern in der Bibliothek meiner (theologischen) Fakultät stieß ich heute auf etwas ebenso Bemerkeswertes wie auch eh und je dringend Nötiges.
1982 wurde in "Geist und Leben", jener berühmten Zeitschrift für christliche Spiritualität, unter dem Titel "Die zornigen alten Männer in den Kirchen" ein kleiner Beitrag von Karl Rahner (gest. 1984) abgedruckt (Seite 336-339), in dem dieser große und wichtige Theologe, von dem ich selbst aber hauptsächlich das (v.a. spirituelle) Frühwerkes schätze, ein eindringliches Zeugnis über die Voraussetzung einer jeden echten Kritik an der Kirche gibt. Wenn man Rahner recht gibt, und das tue ich in diesem Fall ohne Einschränkung, fällt auf, dass es gegenwärtig wohl nur sehr sehr wenig "echte" Kritik an der Kirche gibt... das allermeiste ist einfach nur dummes Gemecker. Der Text sei hier vollständig wiedergegeben (wirklich interessant wirds ab dem 3. Abschnitt):


»Als zorniger alter Mann, so ist es in diesem für den Druck leicht überarbeiteten Vortrag am Saarländischen Rundfunk vorgesehen, soll ich auch in meine Kirche hineinsprechen. Dabei erwartet man wie selbstverständlich eine Kritik dieses zornigen alten Mannes an der Kirche. Kritik an der Kirche ist an sich ganz normal, ist grundsätzlich legitim. Denn die Kirche selbst bekennt im II. Vatikanischen Konzil, daß sie eine immer reformbedürftige Kirche ist. Also kann und muß man auch immer wieder sagen, was reformbedürftig ist. Aber heute darf doch ein zorniger alter Mann auch einmal Kritik gegenüber der Kritik an der Kirche üben. 
Es ist ja nicht so, als ob solche Kritiker selber über jede Kritik erhaben seien. Sie tun aber oft so. Sie gebärden sich oft als die besonders Weisen und Heiligen, die zutiefst an den Schäden und Mängeln in der Kirche leiden, von denen sie selber nicht betroffen sind. Sie lassen oft die selbstkritische Haltung sich gegenüber vermissen, die nun einmal auch zum Menschen gehört, besonders, wenn er sich zum Richter seiner Brüder und auch seiner Kirche bestellt. Ich sage, wie schon betont, nichts gegen Kritik in der Kirche, sie muß sein - und ich selbst habe doch oft genug solche Kritik geübt, auch wenn man sich selber hinterdrein fragt, ob man den Nagel immer auf den Kopf getroffen hat, und manchmal hinterdrein erfährt, daß, was man kritisierte, sich doch noch einmal anders für einen dargestellt hätte, wenn man die Sache noch besser gewußt hätte. 
Eine christliche Kritik an der Kirche muß wirklich kritisch sein, also mindestens einmal jene Bescheidenheit und Vorsicht üben, die man jedem Menschen entgegenbringen muß, den man tadelt. Eine Kritik theologischer Art muß selbstverständlich getragen sein von jenem fachlichen Wissen, das man nun einmal haben muß, wenn man in theologischen Fragen mitreden will. Eine anständige Kritik muß wissen, welche Gründe diejenigen geltend machen, die für die kritisierte theologische Meinung eintreten. Sonst redet man einfältig an seinem Gegner vorbei. Eine echte Kritik darf nicht stillschweigend davon ausgehen, daß die Person oder die Sache schon darum tadelnswert sei, weil sie einem selbst unsympathisch ist. Eine echte Kritik an der Kirche muß immer einkalkulieren, daß bei ihr der Kritiker selbst kritisiert wird. Denn auch er ist ein Glied dieser Kirche, ist ein kurzsichtiger Sünder, der seinen eigenen Teil unmittelbar oder mittelbar zu dem kritisierten Erscheinungsbild der Kirche beiträgt. Eine gute Kritik weiß auch zu unterscheiden zwischen dem, was wirklichgebessert werden kann in einer Gesellschaft von endlichen und sündigen Menschen, und dem, was nun einmal zur unabwälzbaren Last einer Gesellschaft von Menschen gehört, die alle - samt dem Kritiker selbst - keine Genies und keine Heiligen sind. Eine Kritik sollte daher nur gesagt oder geschrieben werden, wenn der Kritiker in einer fröhlichen Stimmung ist, wenn er auch lachen kann und den kritisierten Kirchenmännern letztlich doch in liebendem Wohl wollen zugetan ist, wenn er weiß, daß sie zwar keine Genies oder Heilige sind, aber sich beim näheren Zusehen als ebenso liebenswert, wohlgesinnt und vernünftig herausstellen, wie man es von sich selber glaubt. Natürlich gibt es in der Kirche auch mit Recht zürnende Propheten, wie es ein Johannes der Täufer gewesen war, mit schrecklichen Drohreden, wie sie auch Jesus gehalten hat. Aber man sollte doch vorsichtig sein, bevor man sich selbst eine solche Berufung zutraut. Man müßte vorher doch soviel Buße getan und gebetet haben wie Jesus oder der Täufer. Solche Kritiker aber trifft man doch in der Kirche selten an.
Aber das Problem an der, wie gesagt an sich berechtigten, Kritik an der Kirche, an den Amtsträgern und an den kirchlichen Einrichtungen und Maßnahmen liegt noch tiefer. Die Kritik eines Christen, der wirklich in einer letzten Glaubensentscheidung ein kirchlicher Christ ist, und die Kritik eines Menschen, der außerhalb der Kirche steht oder ein glaubensmäßig gebrochenes und mehr oder weniger nur bürgerlich konventionelles Verhältnis zu ihr hat, sind ganz verschieden oder müßten es doch zumindest sein. Sie gehen ja von ganz verschiedenen Voraussetzungen aus. Es ist zwar durchaus denkbar, daß ein radikal glaubender kirchlicher Christ mehr an der Kirche leidet und bitterer auf manches in ihr reagiert als ein anderer, dem diese Kirche im letzten von vornherein gleichgültig ist.
Bei einer Kritik an der Kirche durch einen kirchlich gläubigen Christen sollte man aber merken können, daß er die Kirche begreift als eine für ihn unabdingbare Wirklichkeit innerhalb seines Christseins und des Verhältnisses zu seinem Gott, der sein ewiges Heil ist. Die Formulierung eines Buches (wenn ich mich recht erinnere): "Warum ich in der Kirche bleibe", finde ich, ehrlich gesagt, gräßlich. Der Glaube kann angefochten sein; ich kann mir auch denken, daß jemand diesen Glauben in seiner kirchlichen Ausdrücklichkeit ohne Schuld vor Gott verliert. Aber der wirklich schlechthin christlich Glaubende als solcher kann kein Verhältnis zur Kirche haben, das ihm erlaubt, in wohlwollender Herablassung darüber nachzudenken, ob er in der Kirche bleiben oder seine Mitgliedschaft doch lieber aufgeben soll. Das Verhältnis zur Kirche gehört, wo es sein wahres Wesen hat, zur Absolutheit des christlichen Glaubens. Und das sollte man merken können, wenn Menschen, die beanspruchen kirchliche Menschen, Glieder der Kirche zu sein, ihre Kirche kritisieren. Andere, die außerhalb der Kirche stehen oder bei denen die Kirche nicht wirklich eine Glaubenswirklichkeit, sondern nur eine relativ zufällige soziologische Größe ist, in die sie zufällig hineingeraten sind, mögen anders über die Kirche urteilen. Aber man sollte an den Kritiken merken, von welchem Standpunkt aus sie formuliert sind. 
Bei Kritiken von solchen, die standesamtlich Katholiken sind, hat man nicht selten den Eindruck, daß sie das eigentliche Wesen der Kirche gar nicht begriffen, gar nicht in ihr existentielles Glaubensbewußtsein aufgenommen haben. Man kann energisch, wild, meinetwegen bitter und rabiat vieles in der Kirche kritisieren. Aber wenn es die Kritik eines Katholiken sein soll, dann sollte man merken, daß da jemand kritisiert, der um seines eigenen ewigen Heiles willen sich als Glied der Kirche erkennt. Man sollte merken, daß da einer bei seiner Kritik an der Kirche gegen die "Kirche" vom innersten Selbstverständnis der Kirche her argumentiert, daß der Kritiker weiß, daß die Kirche letztlich eben doch nicht bloß eine fragwürdige Organisation religiöser Bedürfnisbefriedigung, sondern die - natürlich auch unvermeidlich gesellschaftlich strukturierte - Gemeinde derer ist, die an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, als an das unwiderrufliche Zusagewort Gottes an uns glauben. Was hat es dann im allerletzten auf sich mit dem Ärger mit Pfarrern, Bischöfen und unter Umständen Päpsten, wenn man weiß, daß einem in dieser Kirche das greifbare Gnadenwort Gottes für das ganze Leben durch die Taufe zugesagt wurde, daß man in ihr den Tod und die Auferstehung Jesu als das Ereignis des Heiles Gottes in der Eucharistie mitfeiern kann; wenn man weiß, daß man in dieser Kirche durch alles problematische theologische Reden oder Gerede hindurch doch immer das reine Wort der Selbstmitteilung des ewigen Gottes hören kann, daß man das Wort der Vergebung seiner Lebensschuld zugesagt erhält, daß man im Leben und Sterben in dieser Kirche so wie anderswo nirgends an Jesus, dem getreuen Zeugen des ewigen Gottes, festhalten kann? 
Wie gesagt, andere können anders an der Kirche Kritik üben als ein wahrer Christ und Katholik. Bei dessen Kritik sollte man merken, daß er vom innersten Wesensverständnis der Kirche her redet. Er braucht bei seiner Kritik nicht jedesmal ausdrücklich oder langatmig und salbungsvoll von diesem seinen eigentlichen und letzten Verständnis der Kirche Zeugnis ablegen. In der Rede unter Brüdern (und das sollte doch eine solche Kritik sein) sind solche Beteuerungen der kirchlichen Rechtgläubigkeit überflüssig und würden nur einen peinlichen Eindruck machen. Aber alle Kritik sollte doch aus dieser innersten Mitte unseres Glaubensverständnisses heraus kommen. Sie sollte darum auch selbstverständlich voraussetzen, daß die kritisierten Brüder in der Kirche (vom Papst angefangen bis zum letzten Kirchenküster) doch letztlich von demselben Glauben und derselben Liebe zur Kirche beseelt sind. Woher nähmen wir auch das Recht, diese Voraussetzung nicht zu machen? Natürlich impliziert jede sachlich gerechte Kritik an der Kirche bei den konkret Kritisierten einen gewissen Widerspruch zwischen diesem fundamentalen Glaubensverständnis und dem, was diese Kritisierten faktisch tun oder sagen oder sogar lehren. Aber solche Diskrepanzen sind bei Menschen nun einmal möglich, sind auch beim Kritiker selber gut denkbar. 
Jede innerkirchliche Kritik ruft beim Kritisierten gerade das auch bei ihm als gegeben vorausgesetzte Verständnis des Glaubens im allgemeinen und der Kirche im besonderen an und sucht ihn des Widerspruches zwischen diesem Glaubensverständnis und seinem konkreten Tun und Reden zu überführen. Wo die Kritik so von der gemeinsamen Lebensmitte der Kirche herkommt, ist sie berechtigt und oft sogar notwendig und heilige Pflicht. Aber nur so. Die andere Kritik sollten wir denen überlassen, die die Kirche selber ablehnen. Denen sollten wir nicht nach dem Munde reden.«

vgl. hier.

1 Kommentar:

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