Nicht wenige Katholiken, selbst solche, die einen Abschluss in
(katholischer) Theologie oder Religionspädagogik vorzuweisen haben,
verbinden mit dem Begriff „Keuschheit“ Dinge wie: Verklemmtheit,
Entsagung, Zölibat, Leibfeindlichkeit. Keuschheit bedeute, auf Sex
zu verzichten, ja sich geradezu selbst zu geißeln
[vgl. im Englischen: chastity = Keuschheit; to chastise = züchtigen] und andere zu unterdrücken;
sie sei Teil einer mittelalterlichen Moral und ist merkwürdigerweise v.a. „weiblich“ konnotiert. Warum auch immer. Der Begriff wird daher –
auf diesem falschen Verständnis beruhend: zu Recht – abgelehnt. Im Folgenden sei versucht, in aller Knappheit und ohne Ausschweifungen in benachbarte Gefilde, aufzudröseln, was dieses kuriose Wort
„Keuschheit“ eigentlich meint und warum es seinen schlechten Ruf
nicht verdient hat.
Was sagt denn
die Kirche, was Keuschheit ist?
Der Katechismus
der katholischen Kirche (KKK) betrachtet Keuschheit als eine „Tugend
und Gabe“ die es ermöglicht „mit aufrichtigem und ungeteiltem
Herzen zu lieben“ (KKK 2520). Das ist doch mal etwas in jeder
Hinsicht Positives und Wundervolles; das abzulehnen wäre töricht.
Dass Keuschheit
nicht das Gleiche ist wie der Zölibat, erhellt schon daraus, dass,
wiederum dem Katechismus folgend, jeder Getaufte „seinem
Lebensstand entsprechend ein keusches Leben zu führen“ gerufen ist
(KKK 2394). Also neben zölibatär Lebenden (vgl. KKK 915:
„Keuschheit in Ehelosigkeit“) auch Eheleute (vgl. KKK 2365:
„eheliche Keuschheit“), Alleinstehende und was es sonst noch gibt
– auch homosexuell empfindende Getaufte sind davon nicht
ausgenommen (vgl. KKK 2357-59).
Keuschheit in
der Natur
Das deutsche Wort
Keuschheit kommt von lat. conscius, was soviel wie
bewusst oder selbstbewusst bedeutet; „keusche
Sexualität“ ist also vor allem eines, nämlich bewusst gelebte
Sexualität, die nicht vom Tosen der Begierden hin und her getrieben,
sondern vom Willen geleitet wird. Von der Unkeuschheit gilt daher folgerichtig:
„sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Als Tugend
ist Keuschheit etwas weltanschaulich Neutrales, sie kann ganz
unabhängig von Gott oder christlicher Moral verstanden werden.
Eine der vier
klassischen, schon in der vor- und außerchristlichen Antike
geläufigen Grund- oder Kardinaltugenden ist die Selbstbeherrschung
(etwa bei Platon und Cicero). Das griechische Wort dafür ist
egkrateia, worin das Stammwort krat steckt, das wir
etwa aus dem Wort „Demokratie“ kennen und das Herrschaft oder
Macht bedeutet (Demo-kratie: Herrschaft des Volkes, von gr. demos).
Die Vorsilbe eg kommt von en,
wodurch das Wort egkrateia also eine Herrschaft in
sich selbst meint: Selbstbeherrschung. Das griechische Wort kann
auch Ausdauer und das Ertragen von etwas meinen. Das Gegenteil ist
die Zügellosigkeit (gr. akrasia).
Ein besseres,
weniger „hierarchisches“ Wort für Selbstbeherrschung mag
Mäßigung sein.
Hinsichtlich der Nahrungsaufnahme (oder generell des Konsums) ist ihr
Gegenteil die Völlerei. Im Blick auf das Geschlechtsleben kann man
die Mäßigung präziser als Keuschheit bezeichnen,
deren Gegenteil die Wolllust ist. In beiden Fällen geht es, wie das
Wort „Mäßigung“ schon nahelegt, nicht einfach um Verzicht,
sondern um das richtige Maß und Maßhalten. (Jenes
bekannte Diktum des schweizer Arztes Theophrast von Hohenheim,
genannt Paracelsus, – „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne
Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei“ –
verallgemeinernd, könnte man sagen: Das Rechte Maß bewahrt vor
Schaden.)
Die Keuschheit
gehört als Tugend zunächst einmal zur Naturordnung, sie ist, wie
gesagt, nicht etwas spezifisch „Christliches“ oder gar
mittelalterliches. Interessant ist, dass der Katechismus genau von
dieser natürlichen Bedeutung ausgeht, wenn er sich dem Begriff der
Keuschheit nähert. Die Geschlechtlichkeit „zeigt, dass der Mensch
auch der körperlichen und biologischen Welt angehört“ (KKK 2337).
Diese Tatsache macht die Sexualität aber nicht zur Sünde oder zu
einer Bürde, wie das viele Sekten in der Geschichte behaupteten. Im
Gegenteil: Sexualität gehört wesentlich zum Menschen als Abbild
Gottes, sie gehört zu seiner Fähigkeit zu lieben und Gemeinschaft
zu bilden. „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine
Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen.“ (KKK 2333) Dabei
handelt es sich aber um eine komplexe Wirklichkeit, sie „berührt
alle Aspekte des Menschen in der Einheit seines Leibes und seiner
Seele.“ (KKK 2332)
Keuschheit in Gesellschaft
Keuschheit meint
mehr als bloß „Enthaltsamkeit“ im Sinne eines Verzicht auf etwas
oder gar im Sinne einer Geißelung, auch wenn sie in der
Vergangenheit oft in diese Richtung eingeengt wurde. Angesichts der
Komplexität und Bedeutung, die der Sexualität im Menschen als
Person aus Leib, Geist und Seele zukommt, kann auch die Keuschheit
nicht weniger komplex sein. Die Definition des Katechismus ist hier
allerdings auf den ersten Blick etwas sperrig: „Keuschheit bedeutet
die geglückte Integration der Geschlechtlichkeit in die Person und
folglich die innere Einheit des Menschen in seinem leiblichen und
geistigen Sein.“ (KKK 2337)
Zunächst fällt
auf, dass hier überhaupt nicht von Verzicht oder dergleichen die
Rede ist. Die „Integration der Sexualität in die Person“ ist
eine rein positive Bestimmung. Sie meint die Harmonie oder
Übereinstimmung des sexuellen Empfindens wie des ganz praktischen
Sexuallebens mit der Ganzheit der menschlichen Person aus Geist und
Leib, also ihre Ordnung gemäß dem Mensch(s)e(i)n, ihre
Vermenschlichung: Durch die Keuschheit wird die
Geschlechtlichkeit „persönlich und wahrhaft menschlich“ (KKK
2337). Keuschheit bedeutet, noch immer ohne Berücksichtigung des
christlichen Glaubens und etwaiger göttlicher Gebote, eine vor dem
Wesen des Menschen verantwortete Gestaltung der Sexualität.
Dies hat ein
doppeltes Moment: Keuschheit ist einerseits ein Schutz der Integrität
des Menschen vor Beeinträchtigungen und Schaden. Sie dient der
(nicht nur) körperlichen Unversehrtheit, die zu den Grundrechten des
Menschen gehört. Andererseits ist Keuschheit auch eine positive,
fördernde Kraft.
Kleine Umleitung:
Das Gegenteil der Keuschheit ist logischerweise die Unkeuschheit.
Diese meint nicht nur all das, was ich selbst willentlich gegen meine eigene
Keuschheit (Unversehrtheit) – also das rechte Maß der Geschlechtlichkeit – tue,
sondern ich kann sie auch erleiden oder anderen zufügen: Mein
Nächster hat, genau wie ich, ein Recht auf Keuschheit, wie er ein
Recht auf körperliche Unversehrtheit hat. Somit würde ich mich
schuldig machen, wenn ich sie bei ihm beeinträchtige, z.B. indem ich ihn zu
unsittlichen Handlungen verführe. Keuschheit ist also nicht nur
etwas „für mich“, sondern sie ist auch eine wichtige
zwischenmenschliche Angelegenheit und zwar sowohl im negativen Sinne
der Abwendung von Schaden, wie auch im positiven Sinne der Förderung
eines guten menschlichen Miteinanders. In den Worten des Katechismus:
„Die Tugend der Keuschheit wahrt somit zugleich die Unversehrtheit
der Person und die Ganzheit der Hingabe.“ (KKK 2337) Meine und die
der anderen!
Im Kern geht es
bei der Keuschheit, wie überhaupt bei der Mäßigung, um
Selbstbeherrschung, mit dem Ziel dann fruchtbar und „gesund“
leben zu können. Was im Blick auf die Ernährung jedem einleuchtet,
betrifft aber nicht nur diese, sondern die ganze Biologie des
Menschen und darüber hinaus auch sein Seelenleben. Und noch einmal
geweitet betrifft es nicht nur mich, sondern auch die Menschen um
mich herum. Nochmal: Es geht bei der Keuschheit nicht nur um den
(negativen) Verzicht zum Schutz vor Schaden, sondern auch um die
(positive) Entfaltung für ein gelingendes, „integriertes“,
integres Menschsein (lat. integer: unversehrt) – zu dem eben auch
die Geschlechtlichkeit gehört: „Der keusche Mensch bewahrt die in
ihm angelegten Lebens- und Liebeskräfte unversehrt. Diese
Unversehrtheit sichert die Einheit der Person“ (KKK 2338).
Selbstbeherrschung,
Mäßigung, Keuschheit, können allesamt auch durchaus sehr positiv
verstanden werden. Jeder der ernsthaft Sport treibt weiß, dass auch
Selbstbeherrschung durchaus
kein negatives Wort ist, gerade wenn es nicht nur um Verzicht,
sondern um eine positive Entfaltung und Entwicklung geht.
Dass Handlungen,
die gegen unsere Natur verstoßen, als unkeusch zu betrachten sind,
liegt somit nahe. Aber selbst dieser Naturbegriff ist heute nicht
mehr selbstverständlich. Die christliche Moral setzt jedenfalls
voraus, dass es eine menschliche Identität gibt, die nicht unserem
Willen unterworfen, sondern vorgegeben ist, was zur Folge hat, dass
auch Dinge, die ich will, gegen mein Menschsein verstoßen können.
Mit „Menschsein“ ist hier indes zweierlei gemeint: Mein
biologisches, irdisches Sein mit seiner ihm eigenen Würde, und meine
gnadenhafte Berufung von Gott her durch die Taufe. Was uns zur
spezifisch christlichen Tugend der Keuschheit als einer Gabe führt.
Keuschheit in
der Bibel
Keuschheit ist
auch eine Gabe und
eine Gnade (vgl. KKK 2345). Jede Gabe braucht einen Geber: das
ist Gott, der Quell aller Gnaden und aller Gaben.
Dem oben zum
griechischen Begriff egkrateia Gesagten ist noch hinzuzufügen,
wie es sich damit in der Bibel verhält. Hier ist dieser Begriff erst
relativ spät hineingekommen, da es sich um ein griechisches Wort
handelt. Ist er dort auch zunächst eher negativ verwendet (vgl. Sir
18,30: „Folge deinen Begierden nicht, sondern zügle dein
Verlangen“), ist er doch bald auch durchaus positiv besetzt, so
etwa im 4. Buch der Makkabäer (nicht im christlichen Kanon, aber in
der Septuaginta, dem griechischen Alten Testament, enthalten), worin
sie als „Freundin“ betitelt und in den größeren Kontext eines
(jüdisch verstandenen) gottgefälligen Lebens eingebettet wird:
„Nicht belügen will ich dich, du Gesetz, mein Erzieher; nicht dich
fliehen, Freundin Selbstbeherrschung, nicht dich schänden,
weisheitliebende Vernunft, nicht dich verleugnen, hochwürdiges
Priesteramt und Gesetzeswissen.“ (4Makk 5,34-35 [Riessler]) [Ich
vermute hier allerdings eine starke Überschneidung mit dem
griechischen Wort sophrosyne, was gemeinhin mit „Besonnenheit“
übersetzt wird, manchmal auch mit „Mäßigung“; sie ermöglicht
es nach 4Makk 5,23 u.a. „dass wir über alle Lüste und Begierden
herrschen“.]
Paulus betreibt
diese Selbstbeherrschung, wobei hier jenes „sportliche“ Element
zum Tragen kommt, die Anstrengung um eines bestimmten Zieles willen:
„Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um
einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz
zu gewinnen.“ (1Kor 9,25) Der Begriff kommt im Neuen Testament
relativ selten vor, in den Evangelien gar nicht. Dieses Faktum allein
sagt jedoch nichts über seinen Stellenwert aus. Zwei Stellen sind
für uns besonders interessant:
Als Tugend wird
die Mäßigung/Enthaltsamkeit/Keuschheit etwa in Apg 24,24-25
erwähnt: „Einige Tage darauf erschien Felix mit seiner Gemahlin
Drusilla, einer Jüdin, ließ Paulus holen und hörte ihn an über
den Glauben an Christus Jesus. Als
aber die Rede auf Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit [egkrateias] und das bevorstehende
Gericht kam, geriet Felix in Furcht und unterbrach ihn: Für
jetzt kannst du gehen; wenn ich Zeit finde, werde ich dich wieder
rufen.“
Der Autor der
Apostelgeschichte nennt drei Punkte um den „Glauben an Christus“,
wie ihn Paulus in diesem Gespräch bekannte, zusammenfassen:
Gerechtigkeit, Keuschheit, Gericht. „Gerechtigkeit“ meint hier das
sittliche Handeln gegenüber anderen Menschen, „Keuschheit“ das
sittliche Handeln an sich selbst, und „Gericht“ das, worauf diese
beiden sittlichen Pflichten, wenn sie erfüllt werden, vorbereiten.
Das erinnert stark an den jüdischen (aber nicht in der Bibel zu
findenden) Aristeasbrief (2. Jhd. v. Chr.), wo es heißt: „Das
Tugendhafte Verhalten aber verhindert die Hingabe an ein
Genießerleben und heißt Mäßigkeit [egkrateia] und Gerechtigkeit
vorziehen. All dies steht aber unter Gottes Leitung.“ (Arist 278
[Riessler]) Die Keuschheit dient für Paulus im Gespräch mit dem
Statthalter Felix also zusammen mit der Gerechtigkeit als
Zusammenfassung der ganzen christlichen Lebensführung, wie sie sich
aus dem christlichen Glauben ergibt. Angesichts dieses Bekenntnisses
des Paulus zum christlichen Lebenswandel im Angesicht des Gerichts geraten Felix und seine Frau in „Furcht“ (Apg 24,25)
und sie schicken Paulus weg (zurück ins Gefängnis). Diese Reaktion erinnert frappierend an das Vorgehen vieler moderner Theologen...
Eine zweite Stelle
ist die Abfolge, die der Apostel Petrus für die Glaubensentwicklung
in 2Petr 1,5-7 darlegt: „Darum setzt allen Eifer daran, mit eurem
Glauben die Tugend zu verbinden, mit der Tugend die Erkenntnis, mit
der Erkenntnis die Selbstbeherrschung [egkrateian], mit der Selbstbeherrschung die
Ausdauer, mit der Ausdauer die Frömmigkeit, mit der Frömmigkeit die
Brüderlichkeit und mit der Brüderlichkeit die Liebe!“
Es handelt sich
hier um eine sprachliche Ausdrucksform, die im antiken Christentum
häufiger begegnet, auch in der Bibel, und die gewissermaßen eine
Zusammenfassung der christlichen Ethik bieten möchte. Eine Kurzform
davon ist etwa der bekannte Dreipass „Glaube – Hoffnung –
Liebe“ (vgl. 1Kor 13,13). Meist ist hier der Glaube an den Anfang
gesetzt – denn mit ihm beginnt das christliche Leben – und die
Liebe ans Ende – denn in ihr erfüllt es sich, kommt zur höchsten
Blüte. (Wobei hier nicht ein Gefühl, die romantische Liebe, gemeint
ist, sondern die brüderliche Liebe zu den Menschen und die ergebene
Liebe zu Gott; eine Liebe, die sehr wohl per Gebot verordnet werden
kann: „Liebt einander!“ und „Liebt Gott!“, vgl. 5Mose
11,13.22; Joh 15,12.17). Für uns ist nun wichtig, dass auch der
Keuschheit hier eine wichtige Stellung zukommt. Es ist hier nicht der
Raum, allen diesen Begriffen nachzugehen, es genügt zu wissen, dass die Keuschheit ganz zu Recht zwischen der Erkenntnis (darüber, was gut und
böse, richtig und falsch ist) und der Ausdauer (oder: Geduld,
Standhaftigkeit) eingeordnet wird, denn ohne das Wissen darum, was zu
meiden und was zu suchen ist, kann ich nicht keusch leben; zugleich
kann ich dem mich versuchenden Andrängen der Welt nicht standhalten, wenn
ich dies nicht auch hinsichtlich meiner körperlichen Veranlagung und Bedürfnisse
tue.
Aus dem geringen
Vorkommen der Vokabel egkrateia –
insbesondere aus ihrem Fehlen
in den Evangelien – und
der Tatsache, dass sie erst spät aus dem Griechischen übernommen wurde, wollen
nicht wenige
Theologen gerne ableiten, dass Keuschheit für das Christentum
eigentlich keine Rolle spielt; ja,
dass es überhaupt keine Basis für eine christliche
Askese gäbe, sondern nur der Glaube oder die Berufung auf Gott gelte
(also: Protestantismus).
Das ist natürlich Unfug. Jesus hielt offenkundig die
Keuschheit für höchst bedeutsam, auch wenn das Wort selbst in
den Evangelien nicht aus seinem Mund überliefert ist (warum auch? er hielt schließlich keine Seminare über griechische Philosophie ab!). Seine übertreibende Warnung vor dem
Ehebruch (vgl. Mt 5,28: „wer eine Frau auch nur ansieht, um sie zu begehren…“) und die
Verschärfung des Scheidungsverbots (vgl. Mt 19,8: „am Anfang war das nicht
so…“), sind nichts anderes als konkrete Beispiele für die
Anforderungen eines keuschen Lebenswandels. Insgesamt verlangt Jesus also
auch im Geschlechtsleben unbedingte Lauterkeit im Tun wie im Denken.
Die Ehelosigkeit um des Himmelreiches Willen, als eine Art Hochform
der Keuschheit, ist seine ureigene Erfindung – weder im Judentum
noch im damaligen Heidentum wäre man je auf einen solchen Gedanken
gekommen.
Jesus Christus selbst ist das wichtigste Vorbild und der Maßstab der
Christen für einen keuschen Lebenswandel, auch wenn er selbst sie
nur in der Form lebte, wie sie den Ehelosen geboten ist. Christus ist der Bräutigam der Seele, darum lässt die Keuschheit „den Jünger Christi erkennen, wie er Jesus nachfolgen und ähnlich werden kann. Jesus hat uns zu seinen Freunden erwählt, sich uns ganz hingegeben und lässt uns an seinem Gottsein teilhaben.“ (KKK 2347)
Keuschheit ist dem
Neun Testament zufolge also nicht optional, sondern gehört zum Weg
des Glaubens dazu. Ein keusches, d.h. das gesunde Maß wahrendes
Leben verwirklicht insbesondere die Liebe zu sich selbst im Sinne des
zuvor aus Apg 24 zitierten, und damit den letzte Teil des dreifachen
biblischen Liebesgebots: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
[…] und deinen Nächsten wie dich selbst“
(Lk 10,27), das auch Paulus und Jakobus aufgreifen (vgl. Röm 13,19;
Gal 5,14; Jak 2,8). Die Keuschheit ist schließlich auch eine der
Früchte des Heiligen Geistes, die Paulus den Galatern aufzählt:
„Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld,
Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit“ (Gal 5,22-23).
Paulus scheint hier nicht grundlos die Keuschheit, d.h. die Mäßigung
im Geschlechtsleben, als Letzte in einer Reihe von v.a. geistigen
Tugenden genannt zu haben, denn er fährt sogleich mit einer
„körperlichen“ Metapher fort, wobei für ihn (wie für Johannes)
„Fleisch“ auch einfach ein Wort für das Sündhafte,
Unchristliche sein kann (im Gegensatz zu „Geist“), was dann
körperliche wie geistige Laster meint: „Die zu Christus Jesus
gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und
Begierden gekreuzigt. Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im
Geist wandeln!“ (Gal 5,24-25) Zu meinen, Keuschheit sei wenig
Bedeutsam im Neuen Testament, wenn ein Gutteil der neutestamentlichen
Schriften das „Fleisch“ als Gegensatz zum „Geist“ sehen, ist
schon ziemlich verquer.
„Fleischliche
Gesinnung“, Unzucht, Schamlosigkeit, Unreinheit, Gräuel –
biblische Gegenbegriffe zur Keuschheit, die wir getrost mit dem
Begriff „Unkeuschheit“ zusammenfassen können – sind unbedingt
zu meiden. In den Sündenkatalogen tauchen sie immer wieder auf (vgl.
Mk 7,21-22), und die Christen sollen auch keine Tischgemeinschaft mit
denen haben, die solches tun (vgl. 1Kor 5,11); vielmehr sollen diese
Neigungen „getötet“ werden (vgl. Kol 3,5). Paulus stellt daher
fest: „Der Leib ist aber nicht für die Unzucht da, sondern für
den Herrn“ (1Kor 6,13). Ja, die Unkeuschheit ist für ihn sogar
viel gravierender als andere Sünden, gerade weil sie den eigenen
Leib betreffen: „Meidet die Unzucht! Jede Sünde, die der Mensch
tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt,
versündigt sich gegen den eigenen Leib.“ (1Kor 6,18) Wer der
Unkeuschheit verfällt, kann nicht in das Himmelreich kommen (vgl.
Eph 5,5; Offb 1,27). Kein Wunder also, dass für Paulus die
körperliche Unversehrtheit von der Sünde (= Keuschheit) eine enorm
hohe Priorität genießt bis dahin, dass er wünscht, alle würden,
wie er selbst, ehelos leben (vgl. 1Kor 7,7). Wobei er weise genug ist
zu wissen, dass das Geschlechtliche nicht per se sündhaft ist
(s.u.).
Keuschheit in
der Kirche
Die Keuschheit
spielte in der frühen Kirche eine große Rolle, denn sexuelle
Freizügigkeit war sicherlich eine der prominentesten Erscheinungen,
mit denen sich die Christen damals (wie heute) auseinandersetzen
mussten. Das zeigt die große Radikalität, mit der die Keuschheit
bis zum völligen Verzicht auf Sex – „um des Himmelreiches
Willen“ – geübt wurde, insbesondere in der Form des enthaltsam
lebenden Klerus‘ (Enthaltsamkeitszölibat als Vorstufe zum
Ehelosigkeitszölibat) und dem nach und nach sich entwickelnden
Mönchtum. [Auch hier ist Keuschheit geboten: Der Zölibatär ist
nicht asexuell, sondern genauso ein sexuelles Wesen wie alle anderen
auch… und darum muss auch er bewusst (keusch) damit umgehen; wer
sich für dieses Leben entscheidet, der ordnet seine Sexualität,
seinen Eros bewusst so, dass alle seine Liebe auf Gott gerichtet
ist.] Zudem gab es sektiererische Abirrungen, wie etwa die Enkratiten
(eben von jenem griechischen Wort egkrateia abgeleitet), aber
auch Markioniten und andere, die das Leibliche generell unter
Verdacht stellten und so Sex grundsätzlich als sündhaft
betrachteten – etwas, was die Kirche nie gelehrt hat.
Es wurde zuvor
erwähnt, dass laut dem Katechismus alle Getauften zur Keuschheit ge-
bzw. berufen sind (vgl. 1Thess 4,7). Stellt sich raus, dass dies
nicht alles ist: Mit der Taufe geht nach katholischem Verständnis
sogar eine Pflicht zur Keuschheit einher (vgl. KKK 2355), sie
ist ein Gebot, kein Angebot. Das passt zum dargelegten
biblischen Befund. So ist Keuschheit nicht nur die rechte, dem Wesen
des Menschen gerecht werdende Gestaltung der Sexualität, sie ist es
auch vor dem Angesicht Gottes. Das ist sie aus christlicher Sicht
bereits hinsichtlich der Natur des Menschen – denn diese ist von
Gott geschaffen –, aber mehr noch und deutlicher (von der
nichtchristlichen Umwelt unterscheidend) im Lichte der Gebote, der
Berufung und der uns Geschenkten Gaben Gottes. Insbesondere ist hier
der Heilige Geist zu nennen: „wisst ihr nicht, dass euer Leib ein
Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von
Gott habt?“ (1Kor 6,19) Weil Christen nicht an ein irgendwie
geistiges Nirvana, sondern an die leibliche Auferstehung glauben, ist
der Leib heilig zu halten, denn er ist nicht unser Eigentum, Christus
hat ihn – d.h.: uns – teuer erkauft, darum fährt Paulus
unmittelbar an das zuvor Zitierte anschließend fort: „Ihr gehört
nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft
worden. Verherrlicht also Gott in eurem Leib!“ (1Kor 6,19-20; vgl.
7,23) Was ist das anderes, als ein Aufruf zur Keuschheit?
Als vom Herrn
Erkaufte sollen wir uns selbst und unsere Mitmenschen als Geschöpfe
achten, und, so sie Getaufte sind, auch als Miterben am Reich Gottes.
Ein rein animalisches Triebleben, das den anderen weder als Mensch,
noch als Geschöpf (noch als Christ) ehrt, ist darum immer ein
Verstoß gegen die Keuschheit – und zwar der eigenen, wie der
des/der anderen. Keuschheit hat ihren ganzen Sinn und Zweck aus
christlicher Sicht darin, dass die Sexualität „in die Beziehung
von Person zu Person, in die vollständige und zeitlich unbegrenzte
wechselseitige Hingabe von Mann und Frau eingegliedert“ wird (KKK
2337). Keuschheit ist das Bewusstsein, dass Sexualität mehr ist als
was die Welt (z.B. die Wissenschaft) darüber zu sagen weiß; Sex ist
in sich ein „Schöpfungsgut“ (Lust, Sprache der Liebe) und er
gibt auch direkt Anteil am Schöpfungswerk Gottes, da bei der Zeugung
Gott selbst die Seele des neu entstandenen Menschen erschafft. Daraus
erhellt, dass Sexualität ihren Ort nur in der Ehe zwischen einem
Mann und einer Frau haben kann, was von der geschaffenen Natur („als
Mann und Frau schuf er sie“) wie von den Geboten Gottes her ohne
Alternative ist.
Aber ebenso wäre
eine vergeistigte, die Natur verachtende Sexualität, die etwa die
Freude oder die Befriedigung ablehnt, ein Verstoß gegen die
Keuschheit, weil auch das dem von Gott gewollten komplexen Sinn und
Ziel der Sexualität widersprechen würde: Das Lustempfinden gehört
zur von Gott geschaffenen Natur dazu. Es darf bloß nicht
verabsolutiert, d.h. herausgelöst werden aus dem ihm von Natur aus
eigenen und gebotenen Kontext. Tatsächlich wäre das Vorenthalten
der geschlechtlichen Liebe in der Ehe aus einem ungerechten (z.B.
böswilligen) Grund nicht minder ein Verstoß gegen die Keuschheit.
Pointiert formuliert: Kein Sex in der Ehe (ohne triftigen Grund) ist
ein Fall von Unkeuschheit. Darum mahnt Paulus die Eheleute: „Entzieht
euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur
eine Zeit lang, um für das Gebet frei zu sein! Dann kommt wieder
zusammen“ (1Kor 7,5).
So wird deutlich:
Keuschheit ist nicht leibfeindlich. Sie ist, richtig verstanden, die
höchst mögliche Leibfreundlichkeit, weil sie diesen Leib als
zum Wesen des Menschen (als Geschöpf Gottes) gehörend anerkannt und heiligen
will. Der Leib „gehört“ nicht dem Menschen, ein Mensch „hat“
nicht einen Leib, sondern er „ist“ dieser Leib (und der Geist und
die Seele). Genau darum ist der Leib genauso zu achten, zu schützen,
aber auch zu lieben wie der Mensch insgesamt. Ich bin überzeugt:
Keine Religion oder Philosophie oder sonst ein Gedankengebäude in
der Geschichte der Menschheit nimmt den Menschen als Ganzen so ernst
und schätzt ihn so hoch, wie die katholische Sexualmoral, in deren
Kern der Ruf zur Keuschheit steht. Siehe „Theologie des Leibes“.
Wahre Liebe ist immer keusch, sei es die Freundschaft (Agape; vgl.
KKK 2347), aber auch und gerade die erotische Liebe (Eros).
Keuschheit ist
nicht eine irgendwie bloß nachgeordnete Tugend, auch wenn ihr
insbesondere in den Ermahnungen Jesu und der Apostel stets etwa die
Nächstenliebe vorausgeht. Sie ist, wie bereits dargelegt, vielmehr
ein essentieller Ausdruck der Selbst- und Nächstenliebe, „eine
Schule der Selbsthingabe. Die Selbstbeherrschung ist auf die
Selbsthingabe hingeordnet.“ (KKK 2346) Dadurch hat die Keuschheit
zugleich, wie jeder wahre Dienst der Liebe, einen deutlichen
Verweischarakter auf Gott: „Die Keuschheit lässt den, der ihr
gemäß lebt, für den Nächsten zu einem Zeugen der Treue und der
zärtlichen Liebe Gottes werden.“ (KKK 2346) Wenn die Unkeuschheit
vom Reich Gottes ausschließt, so verheißt die Keuschheit ewiges
Leben (vgl. KKK 2347). Da wir uns das ewige Leben aber nicht eigenmächtig „verdienen“ können wird hier auch deutlich, warum die Keuschheit als Gabe bezeichnet wird: Wie die Liebe von jenem Gott kommt, der die Liebe selbst ist (vgl. 1Joh 4,8), so ist auch die Keuschheit von Gott geschenkt und eine Gnade zu unserem Heil; was natürlich, wie bei jeder Gnade, nicht unsere menschliche Mitwirkung aufhebt (s.u.).
Schließlich ist kaum zu leugnen, dass jeder
Getaufte nicht nur für seine eigene Keuschheit zu sorgen hat,
sondern auch die Unversehrtheit anderer achten und schützen soll,
soweit es an ihm liegt; auch das ist ein Dienst der Nächstenliebe.
Eine konkrete Lektion, was diese doppelte Dimension der Keuschheit
betrifft, bietet Paulus im Blick auf die Ehe an, wenn er schreibt:
„Das ist es, was Gott will: eure Heiligung – dass ihr die Unzucht
meidet, dass jeder von euch lernt, mit seiner Frau in heiliger und
achtungsvoller Weise zu verkehren, nicht in leidenschaftlicher
Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen“ (1Thess 4,3-5).
Keuschheit und
Scham
Nach dem
Philosophen Max Scheler ist die Scham das „Gewissen der Liebe“,
die jede Verzweckung und Berechnung der Sexualität meiden hilft und
zu ihrer Humanisierung beiträgt. Sie kommt damit der Keuschheit sehr
nahe, nur dass es sich bei der Scham um eine natürliche, quasi
instinktive Anlage im Menschen handelt, die schon bei kleinen Kindern
auftritt, während das, was wir hier Keuschheit genannt haben, eine
willentliche Handlungs- und Denkweise meint: „Die Keuschheit ist
eine persönliche Aufgabe; sie erfordert aber auch eine kulturelle
Anstrengung […]. Die Keuschheit setzt die Achtung der
Menschenrechte voraus, insbesondere des Rechtes auf Bildung und
Erziehung, welche die sittlichen und geistigen Dimensionen des
menschlichen Lebens berücksichtigen.“ (KKK 2344)
Scheler zufolge
ist die Scham nicht, wie gemeinhin behauptet wird, anerzogen, sondern
es ist im Gegenteil die Schamlosigkeit, die anerzogen wird, und
ebenso die falsche Scham (Prüderie); beides verhindert echte Liebe,
Partnerschaft und Hingabe. Das rechte Schamgefühl gehört zu einem
gesunden Menschen natürlicherweise dazu, während es beim Tier
fehlt. Man hat einen absichtlichen Abbau des Schamgefühls mit der
Beeinträchtigung des Immunsystems verglichen, womit wir wieder beim
Recht auf Unversehrtheit wären.
Für den Theologen
Helmut Thielicke bilden Scham und Erkenntnis eine Einheit, da die
Geschlechtlichkeit ein Geheimnis sei, das nicht unrechtmäßig
enthüllt werden dürfe, um nicht verletzt zu werden. Ähnlich heißt
es im Katechismus: „Die Schamhaftigkeit schützt das Geheimnis der
Personen und ihrer Liebe. Sie lädt zu Geduld und Mäßigung in der
Liebesbeziehung ein; sie verlangt, dass die Bedingungen der
endgültigen Bindung und wechselseitigen Hingabe von Mann und Frau
erfüllt seien.“ (KKK 2522) Darum ist es so überaus sinnig, dass
in der biblischen Sprache „erkennen“ ein Ausdruck für den
Geschlechtsakt ist. Erkenntnis meint hier nicht das empirische,
aufklärerische Erlangen von Wissen, sondern das innere,
existentielle Sich-Erkennen zwischen zwei Personen in ihrer ganzen
Würde und ohne Abstriche, weswegen beispielsweise künstliche
Empfängnsiverhütung unzulässig ist: „Ich gebe mich dir hin und
nehme dich an, ohne etwas auszuschließen, auch nicht unsere
jeweilige Fruchtbarkeit.“
Die Keuschheit
„ermöglicht, mit aufrichtigem und ungeteiltem Herzen zu lieben“
(KKK 2520), sie führt „zu einer Gemeinschaft im Geist.“ (KKK
2347)