»Die Religionsfragen sind so mit Phrasenmüll zugeschüttet, mit lauter Nebensachen und Sekundärproblemen, dass man erst einmal die Substanz wieder freilegen muss: dass der Glaube ein Urphänomen der Menschheitsgeschichte ist, dass er tief in die Seele des Einzelnen hineinreicht, dass er durch tausend Fäden mit den großen Zusammenhängen unserer Kultur verbunden ist. Davon besteht im Augenblick kaum ein Bewusstsein, umso mehr dafür begegnet man kirchlicher und antikirchlicher Vereinsmeierei. Eine Gesellschaft in der nurnoch eine kleine Minderheit den Gottesdienst besucht, kann sich endlos darüber unterhaltem, ob Frauen zu Priestern geweiht werden sollen, ob die Ehelosigkeit der katholischen Geistlichen abgeschafft gehört, und ob die Kirche das Recht hat, gegen die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften zu protestieren. Es ist ein hochprofessioneller und sterbenslangweilger Debattierapparat, der mit der Erörterung dieser immer gleichen Gegenstände beschäftigt ist und man muss ihn abschalten, um fruchtbar über Religion reden zu können.
Die Schlüsselwörter eines ernstzunehmenden Religionsgesprächs lauten nicht «Zölibat», «Deutsche Bischofskonferenz» oder «lateinische Messe», sondern «Sünde», «Gott» und «Ewigkeit». Nur von den großen Glaubensfragen her gewinnt das Kirchliche und Kirchenpolitische seinen Sinn, sonst wird es leer und öde, ganz gleich, ob es mit orthodoxer oder «kritischer» Tendenz betrieben wird.
In seiner schlichtesten und grundsätzlichsten Form lässt sich der Streit um den Glauben auf die Frage nach Blindheit und Sehen bringen. Der Religionskritik gilt die Religion als Phänomen der Verblendung. Der Blick des Gläubigen ist getrübt, er hält Phantasien (wie Wunder) für die Wirklichkeit, er ist benebelt vom Fanatismus, den ihm der Ausschließlichkeitsanspruch seines Gottes eingibt. Ob Priesterbetrug, Opium des Volkes oder illusionäre Wunschvorstellung: Religion ist Verlust des Realitätssinns, und man muss sich von ihr befreien, um die Dinge endlich wahrzunehmen, wie sie sind.
Die Gegenthese lautet: Der Glaube sieht nicht weniger, sondern mehr. Es ist mit ihm wie mit der Liebe. Auch von ihr heißt es, dass sie blind macht, und in gewisser Weise trifft das zu. Doch letztlich, in einem tieferen Sinne, ist es umgekehrt: Die Liebe macht sehend, sie entdeckt, was der Gleichgültigkeit ewig verborgen bleibt; nur dem liebevollen Blick enthüllt sich das Wesen des Menschen. Die Liebe kann sich täuschen, aber die Lieblosigkeit ist die viel fundamentalere Unwahrheit: eine Welt ohne Licht, seelische Finsternis. So wäre auch die Religion in ihrem Kern kein Weniger-, sondern ein Mehr-Sehen, eine Offenheit für Überraschung und Geheimnis, ein komplexerer Begriff von Wirklichkeit.«
(Jan Roß, Die Verteidung des Menschen; den Großteil des hier von mir zitierten hat Johannes Kreier gestern in seiner Predigt zitiert: hier)
Donnerstag, 2. Mai 2013
Kirche als Debattierapparat
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