Im 19. Jahrhundert gab es, besonders in England, das Phänomen des „Minimismus“, der alles, was nicht ausdrücklich als „Dogma“ erklärt wurde, für eine bloße Meinungsäußerung hielt und darum als unwichtig und unverbindlich betrachtete. Das gleiche Phänomen haben wir heute wieder sehr oft (nach dem Schema: Dass Frauen nicht Priester werden können ist kein Dogma, also kann es auch anders sein), Michael Seewald ist nur einer von zahlreichen Inhabern dieser Meinung in einflussreichen kirchlichen Positionen. Wobei er noch einen Schritt weitergeht und irrwitzigerweise, ich paraphrasiere, den Katechismus in Gänze als „ist doch kein Dogma, also weg damit!“ bezeichnet, was natürlich auf gar keiner Ebene irgendeinen Sinn ergibt.
Die sog. „katholischen Wahrheiten“ hat insbesondere Matthias Joseph Scheeben in der Erkenntnislehre am Beginn seiner Dogmatik recht ausführlich behandelt (vgl. Bd. 1, Nr. 416-432). Man kann sie auch als „Dogmen im weiteren Sinne des Wortes“ bezeichnen, d.h. sie sind „vorschriftsmäßige Lehre der Kirche, zu deren zweifellosen Annahme jedes Glied der Kirche als solches ebenso verpflichtet als berechtigt ist“ (edb. 416). Eingängiger als bei Scheeben, findet sich das Thema bei Schmaus, Katholische Dogmatik Bd. 3/1, 809-811 (§177) erläutert.
Letztlich ist das alles auch eine Frage der sprachlichen Konvention: was ein „Dogma“ genannt wird, und was nicht. In all seinen neuscholastischen Feinheiten (siehe Scheeben) interessiert das heute eigentlich niemanden mehr. Am ehesten ist vielleicht noch die Unterscheidung zwischen „göttlichen“ und „kirchlichen“ Dogmen relevant, also direkt aus der Offenbarung gewonnene Lehren, respektive von der Kirche als mit dieser eng verbunden verbürgte, wie es der Katechismus darlegt. Fest steht aber: Etwas wird nicht erst dadurch verbindlich, dass es als „Dogma“ bezeichnet und festgesetzt wird, sondern andersherum wird ein Schuh draus: Weil etwas verbindlich gelehrt wird, kann die Kirche es „Dogma“ nennen und „dogma-tisieren“ – muss sie aber nicht, was nichts an seiner Verbindlichkeit ändert.
Und das unfehlbare Lehramt erstreckt sich natürlich auch auf diese „katholischen Wahrheiten“, das ist völlig klar (bei Schmaus werden sie etwa ausgerechnet im Kapitel zur päpstlichen Unfehlbarkeit [= §177] näher behandelt). Dass der KKK in Nr. 88 einen „weiten“ Dogmenbegriff wählt ist legitim und geschah womöglich auch mit der Absicht, dem wieder aufkeimenden Minimismus entgegen zu treten, bedeutet aber in keiner Weise eine Ausweitung der kirchlichen Lehrvollmacht oder des Verbindlichkeitsanspruchs – das war vorher alles schon da.
Was einen Inhaber eines dogmatischen und dogmengeschichtlichen Lehrstuhls dazu veranlasst, seit Jahren immer und immer wieder etwas als 1992 illegal eingeführt zu bezeichnen, was offenkundig schon sehr viel länger zum dogmatischen Einmaleins gehört, vermag ich nicht zu beurteilen. Dass der KKK „dem Lehramt eine Kompetenz zu[spricht], die die vergangenen beiden Konzilien ihm ausdrücklich nicht zugesprochen haben“, wie Seewald meint, stimmt jedenfalls sicher nicht. Dazu Schmaus (a.a.O. 809):
»Das Feld der päpstlichen Unfehlbarkeit umfaßt die ganze Offenbarung, also die geoffenbarten Glaubens- und Sittenlehren, aber auch jene Randgebiete, welche mit dem Offenbarungsfelde selbst in so enger Verbindung stehen, daß dieses nicht mehr unversehrt bleibt, wenn nicht auch jene gesichert sind.
Es handelt sich hierbei um die sogenannten katholischen Wahrheiten, um allgemeine kirchliche Disziplinarvorschriften, um die Approbation von Orden und schließlich um die Kanonisation von Heiligen.«
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