»Der lebendige Geist will begeisten und beleben; will, daß Geist und Leben einander finden, daß Geist sich ins Leben gestalte, Leben aus Geist sich kläre; er will, daß die Schöpfung sich aus sich vollende.
Dieses Willens und des gebotenen Dienstes am lebenverbundenen Geist Zeugnis will das "Alte Testament" sein. Faßt man es als "religiöses Schrifttum", einer Abteilung des abgelösten Geistes zugehörig, dann versagt es, und dann muß man sich ihm versagen. Faßt man es als Abdruck einer lebenumschließenden Wirklichkeit, dann faßt man es, und dann erfaßt es einen. Der spezifisch heutige Mensch aber vermag dies kaum noch. Wenn er an der Schrift überhaupt noch "Interesse nimmt", dann eben ein "religiöses" -- zumeist nicht einmal das, sondern ein "religionsgeschichtliches" oder ein "kulturgeschichtliches" oder ein "ästhetisches" und dergleichen mehr, jedenfalls ein Interesse des abgelösten, in autonome "Bereiche" aufgeteilten Geistes. Er stellt sich dem biblischen Wort nicht mehr, wie die früheren Geschlechter, um auf es zu hören, er konfrontiert sein Leben nicht mehr mit dem Wort; er bringt das Wort in einer der vielen unheiligen Laden unter und schafft sich Ruhe davor. So lähmt er die Gewalt, die unter allem Bestehenden am ehesten ihn zu retten vermöchte.
Die sich Besinnenden mögen mich fragen: "Und wenn dieser Mensch -- und wenn wir es zustande brächten, als Ganze vor die Ganzheit des Buches, von dem du redest, zu treten, würde nicht auch dann noch das zu einer echten Rezeption Unentbehrlichste fehlen? Würden wir dem Buch dann glauben können ? Würden wir es glauben können? Können wir mehr als glauben, daß einst so geglaubt worden ist, wie es berichtet und bekundet?"
Dem "heutigen Menschen" ist die Glaubenssicherheit nicht zugänglich und kann ihm nicht zugänglich gemacht werden. Wenn es ihm um die Sache ernst ist, weiß er das und darf sich nichts vortäuschen. Aber die Glaubensaufgeschlossenheit ist ihm nicht versagt. Auch er kann sich, eben wenn er mit der Sache wahrhaft Ernst macht, diesem Buch auftun und sich von dessen Strahlen treffen lassen, wo sie ihn eben treffen; er kann sich, ohne Vorwegnahme und ohne Vorbehalt, hergeben und sich erproben lassen; er kann aufnehmen, mit allen Kräften aufnehmen, und erwarten, was etwa an ihm geschehen wird, warten, ob nicht zu dem und jenem in dem Buch eine neue Unbefangenheit in ihm aufkeimt.
Dazu muß er freilich die Schrift vornehmen, als kennte er sie noch nicht; als hätte er sie nicht in der Schule und seither im Schein "religiöser" und "wissenschaftlicher" Sicherheiten vorgesetzt bekommen; als hätte er nicht zeitlebens allerlei auf sie sich berufende Scheinbegriffe und Scheinsätze erfahren; neu muß er sich dem neugewordenen Buch stellen, nichts von sich vorenthalten, alles zwischen jenem und ihm geschehen lassen, was geschehen mag. Er weiß nicht, welcher Spruch, welches Bild ihn von dort aus angreifen und umschmelzen, woher der Geist brausen und in ihn fahren wird, um sich in seinem Leben neu zu verleiben; aber er ist aufgetan. Er glaubt nichts von vornherein, er glaubt nichts von vornherein nicht. Er liest laut*, was dasteht, er hört das Wort, das er spricht, und es kommt zu ihm, nichts ist präjudiziert, der Strom der Zeiten strömt, und dieses Menschen Heutigkeit wird selber zum auffangenden Gefäß.«
(Aus: Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Heiligen Schrift)
* Dazu Buber: »schon die hebräische Bezeichnung für "lesen" bedeutet: ausrufen, der traditionelle Name der Bibel ist: "die Lesung", eigentlich also: "die Ausrufung"«. Die Israeliten lasen nicht einfach im Stillen, sondern sie sprachen laut aus, was sie vor sich hatten. Der biblische Text, zumal im Original, muss gelesen, gesprochen und dadurch wiederum gehört werden, um voll zu seiner Geltung zu kommen.
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