Sonntag, 23. Januar 2022

Tradition und Fortschritt

Der heilige und kluge Mann erkannte nämlich, dass die Frömmigkeit nichts anderes gestatte, als dass alles mit derselben Treue den Kindern übermittelt werde, mit der wir es von den Vätern empfangen haben; dass ferner wir die Religion nicht dahin führen, wohin wir wollen, sondern ihr vielmehr zu folgen haben, wohin sie uns führt; dass es endlich das Eigentümliche der christlichen Bescheidenheit und Bedachtsamkeit ist, nicht das Eigene den Nachkommen zu überliefern, sondern das von den Vorfahren Empfangene zu bewahren.

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Aber vielleicht sagt jemand: Wird es also in der Kirche Christi keinen Fortschritt der Religion geben? Gewiss soll es einen geben, sogar einen recht großen. Denn wer wäre gegen die Menschen so neidisch und gegen Gott so feindselig, dass er das zu verhindern suchte? Allein es muss in Wahrheit ein Fortschritt im Glauben sein, keine Veränderung. Zum Fortschritt gehört nämlich, dass etwas in sich selbst zunehme, zur Veränderung aber, dass etwas aus dem einen sich in ein anderes verwandle. Wachsen also und kräftig zunehmen soll sowohl bei den einzelnen als bei allen, sowohl bei dem einen Menschen als in der ganzen Kirche, nach den Stufen des Alters und der Zeiten, die Einsicht, das Wissen und die Weisheit, aber lediglich in der eigenen Art, nämlich in derselben Lehre, in demselben Sinne und in derselben Bedeutung.

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Denn es gehört sich, dass jene alten Lehrsätze einer himmlischen Philosophie im Verlaufe der Zeit weiter ausgebildet, gefeilt und geglättet werden; aber es ist unzulässig, dass sie verändert, unzulässig, dass sie entstellt, unzulässig, dass sie verstümmelt werden; sie mögen an Deutlichkeit, Licht und Klarheit gewinnen, aber sie müssen ihre Vollständigkeit, Reinheit und Eigentümlichkeit behalten.

Denn wenn einmal eine solche Willkür gottlosen Betruges zugelassen würde, so würde, ich sage es mit Schrecken, die größte Gefahr der Zerstörung und Vernichtung der Religion die Folge sein. Denn wird einmal auch nur ein kleiner Teil der katholischen Glaubenslehre aufgegeben, so wird auch ein anderer und dann wieder ein anderer und zuletzt einer nach dem anderen wie gewohnheits- und rechtmäßig aufgegeben werden. Wenn aber die einzelnen Teile verworfen werden, was anders wird dann die letzte Folge sein, als dass das Ganze zugleich verworfen wird?

 

Vinzenz von Lérins, Commonitorium 9.28.30-31

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