»Nach populärer Vorstellung ist die Langlebigkeit einer Institution an sich schon ein Einwand gegen sie - weil und wie bisher Alter an sich schon als Empfehlung galt. Heute herrscht bereits die unbewußte, darum um so mächtigere Vorstellung, solches Überleben könnte nur auf verdächtigten Ursachen beruhen: wie Unwissenheit, Aberglauben, Geistesträgheit, Machtkampf und Sturheit. Daß etwa Vernunft und Bewährung im Bewahren auch mitspielen könnten, damit rechnet man nicht gerne. Diese Voraussetzung erschwert jedem, der für Tradition irgendwelcher Art eintritt, das Gespräch: denn wie einst der Neuerer, befindet sich nun der Verteidiger eines Überlieferten und vornherein im Unrecht und auf der Anklagebank.« (Ida Friederike Görres, Be-Denkliches)
Was Ida Görres vor 50 Jahren, mitten in den Wirren nach dem letzten Konzil konstatierte, ist heute allgegenwärtig. Das ist besonders traurig, weil die gesamte Kirchengeschichte (und schon die Überlieferung innerhalb der Schriften des Neun Testaments!) bezeugt, dass das Hergebrachte, das Überlieferte, das Tradierte die Priorität genießt und jedes "Neue" von dieser Tradition her im Sinne einer Unterscheidung der Geister geprüft werden muss. Heute ist es andersherum. Die Perspektive hat sich völlig verschoben.
Das ist übrgens das gleiche Phänomen, das wir besonders im liturgischen Leben der Kirche beobachten können: Das überall anzutreffende Missverständnis liegt darin, dass die Gemeinde sich selbst feiern will, "Gemeinschaft" und "Beisammensein" sucht, anstatt das uneingeschränkte und bedingungslose Lob Gottes, das ihm wohlgefällige Opfer, darzubringen (vgl. dazu hier).
Dieser Perspektivwechsel ist in der akademischen Theologie besonders krass zu beobachten, und ich meine nicht nur, was man gemeinhin "anthropologische Wende" nennt (die ja auch eine sehr wichtige, positive Seite hat, wie sie etwa in der Theologie des Leibes zum Vorschein kommt). Ich meine noch viel grundlegender die Infragestellung von jedweder Wahrheit und zwar in allen theologischen Disziplinen. Und das geht so:
Früher (also: bisher immer) galt die Offenbarung Gottes dem Menschen. Sie hatte normativen Charakter. Die Gebote Gottes galt es zu befolgen, ihre Nichtbefolgung galt als Sünde, gleichbedeutend mit einer Abwendung und Flucht vor Gott, die sich dann konsequent auch ins Ewige fortzusetzen drohte (= Verdammnis). Wer sagte: Ich habe ihn erkannt!, aber seine Gebote nicht hält, der war ein Lügner und die Wahrheit war nicht in ihm (vgl. 1Joh 2,4).
Heute ist ein Grundaxiom der meisten Theologie auf eine Formel gebracht, wie sie mir neulich in konziser Form im Kontext der Religionspädagigik begegnet ist: "Die göttliche Offenbarung hat nur dann Geltung für den Menschen, wenn sie von diesem angenommen und bejaht wird."
Der Satz klingt für den Laien (und die meisten Theologiestudenten) auf den ersten Blick insofern vernünftig, weil er syllogistisch anmutet: Nur wenn ich etwas annehme und bejahe, kann es in meinem Leben zur Geltung kommen. Klingt logisch, weil es eigentlich zweimal das gleiche sagt: annehmen - zur Geltung kommen lassen... Wenn etwas in meinem Leben zur Geltung kommt, heißt das, dass ich es angenommen habe. Aber hier schleicht sich beim aufmerksamen Leser bereits ein ungutes Gefühl ein... stimmt das denn? Der Kniff, der hier angewendet wird, ist die Nuancierung des Begriffs der Geltung: Geltung meint nicht nur, dass sich etwas manifestiert, dass es bemerkbar wird und Auswirkungen hat, sondern im engeren Sinne eben auch - und darin den eben genannten Bedeutungen semantisch wie existentiell vorgelagert -, dass etwas gilt! Und genau diese letzte Bedeutung ist es, die mit der oben gegebenen axiomatischen Formel einerseits kaschiert werden soll, obgleich sie andererseits durchaus primär intendiert ist. Zu Deutsch: Man erweckt den Eindruck, nur eine doppelt-gemoppelte Phrase über die sich im Leben auswirkende Offenbarung Gottes zu gebrauchen, weil man sich irgendwie doch noch subkutan bewusst ist - zumindest im öffentlichen theologischen Treiben und Schreiben -, dass hier etwas Steiles behauptet wird. Aber was man eigentlich tut, und was auch jedem irgendwann freudig (weil "entlastend") auffällt, kommt einer Abschaffung dieser Offenbarung gleich.
Wenn nämlich die Offenbarung Gottes - und darin besonders seine Gebote - nur dann für mich gelten, wenn ich sie auch annehme und bejahe, heißt das nämich im Umkehrschluss, dass sie für mich dann nicht gelten, wenn ich sie nicht annehme und bejahe. Die Wahrheit Gottes und seine Gebote haben keine Geltung, keine Gültigkeit, wenn ich sie nicht möchte - ich bin nicht an sie gebunden. Oder so: Gott verlangt von mir keine Erfüllung seiner Gebote, wenn ich das nicht auch selbst will und er sanktioniert auch keine Nichterfüllung.
Noch grundlegender gilt dies für die Wahrheit Gottes selbst: Was auch immer die Bibel und/oder die Kirche von der Wahrheit Gottes lehren, gilt nur dann für mich, wenn ich es möchte. Wenn ich es nicht möchte, ist es auch egal, und Gott findet sich damit ab. Das ist der Begriff von "Freiheit", den der Freiburger Fundamentaltheologe Herr Striet in seiner endlosen atheistischen Selbstreferenz meint, wenn er sagt, dass es "nichts [gibt], über das hinaus Größeres für den Menschen zu denken und zu ersehnen wäre als das Recht auf Freiheit" (vgl. meine Notiz dazu hier).
Solches Denken lässt sich dann noch auf vielerlei Weise ganz gut kaschieren, beispielsweise so, wie es mir erst diese Woche wieder einmal begegnete: Indem man sagt, man verstehe Christentum als ein "narratives" Geschehen - im betonten Gegensatz zu einem am überlieferten Erbe "starr festhaltenden" "dogmatischen" Christentum. Das klingt zunächstmal irgendwie gut, und man kann es auch im guten Sinne verstehen: Von Jesus muss immer neu erzählt werden, und jeder muss selbst mit Ihm seine Lebensgeschichte gestalten (erzählen). Was aber damit i.d.R. gemeint ist, ist nicht das neue Erzählen, sondern das Erzählen von etwas Neuem, das man sich selbst ausgedacht hat und das wie selbstverständlich ausdrücklich gegen die Überlieferung in Stellung gebracht wird. Also genau das, wovor besonders der Apostel Paulus immer und immer wieder warnt.
Interessant ist, dass die Unterhaltung, in der mir diese Aussage diesmal begenete, sich von einem konkreten Sachverhalt sehr schnell auf die Frage nach der theologischen Erkenntnis verschoben hat und dort dann auch konsequenterweise von meiner Gesprächspartnerin die Evangelien gegen Paulus in Stellung gebracht wurden, nachdem ich auf die vielfältigen Aussagen des Paulus über das Festhalten an der überlieferten Lehre hingewiesen habe. Darauf die Erwiderung: Paulus vertrete nämlich ein solches "dogmatisches" Christentum, aber in den Evangelien sei das nicht so. Dass die Evangelien später als die meisten Briefe des Paulus entstanden sind und zwar auch in Gemeinden, die von diesem Paulus sehr geprägt waren, schien sie genausowenig zu interessieren, wie die Tatsache, dass die Evangelien selbst Frucht eines "Festhaltens" und getreuen Überlieferns sind, das logischereweise stattgefunden haben muss, bevor sie geschrieben wurde. In der Apostelgeschichte können wir ebenfalls die Wichtigkeit getreuer Überlieferung in der frühen Kirche geradezu live, "narrativ", erleben: "Sie hielten an der Lehre der Apostel fest"; Apg 2,42. Von den vielen eindeutigen Aussagen Jesu gerade über die Gebote Gottes, das zu erwartende Gericht und seine Person - die eine Umdeutung zu etwas weniger als dem Fleichgewordenen einzigen Sohn Gottes, der wiederkommen wird als Weltenrichter, nicht erlauben - einmal abgesehen. (Das war besonders witzig [oder gruselig?], weil mir jene Gesprächspartnerin zuvor, als es noch um den konkreten Sachverhalt ging, einen Mangel an Kontextualität in meiner Bibelhermeneutik vorwarf...)
Es darf nichts mehr vorgegeben sein, sei es in Sachen Moral, sei es über die Realität Gottes. Alles, was uns überliefert ist von Gottes Taten und Gottes Weisung, hat im Grunde überhaupt keine Gültigkeit, Gott ist damit völlig machtlos. (Hier zeigt Karl Barth, wie diese Machtlosigkeit auch zur Abschaffung der Gnade führen muss.) Es ist alles irgendwie auf die Ebene von Meinungen herabgedrückt, die man am Stammtisch äußern kann. Wer sich auf etwas beruft, was er nicht einfach selbst meint, sondern was er als Empfangenes weitergeben will (vgl. 1Kor 11,13), der wird verlacht und ausgeschlossen.
»Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung.
Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden.
Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!«
(2Tim 4,1-5)
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