Im vergangenen Jahr hat der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald ein Buch von Karl Rahner aus dem 70er Jahren mit einer Einleitung neu herausgebracht: "Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance". Trotz mancher hilfreicher Passagen ist das Buch insgesamt so eine Art Wunschliste progressiver Kirchenreformer, die viele theologische Mängel aufweist. Besonders fragwürdig finde ich es, dass der Autor zumeist recht gehoben theologisierend daherkommt, wenn es um Liberalisierungen und Abschaffungen geht, er aber immer dann, wenn er scheinbar die Integrität der katholischen Kirche als solcher zu wahren versucht, in individualistisches, emotionales Lallen verfällt. Beispiel: Nach Rahner dürfte es durchaus auch in Zukunft ein Lehramt geben (wie gnädig) das "Weisungen" gibt, aber, so Rahner weiter, dabei müsse "natürlich alles Kleinkarierte und Gouvernantenhafte vermieden werden". Damit ist aber das Lehramt, trotz aller gegenteiligen Beteuerung, faktisch doch entsorgt: Denn welche Äußerungen des Lehramts dieses Kriterium erfüllen, fällt ganz in das Ermessen des jeweiligen Hörers, dem freilich alles das gerne als kleinkariert und guvernantenhaft erscheint, womit er selbst nicht einverstanden ist. Die Reaktionen etwa auf die jüngste Instruktion aus Rom über die Rolle des Pfarrers in der Pfarrei belegen das hinlänglich.
Papst Franziskus zitiert in seinem Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland dieses Buch nicht, dafür aber ein anderes, das thematisch in die gleiche Sparte fällt, das man hierzulande aber eher ignoriert (und ganz selten mal selektiv instrumentalisiert): In Abschnitt 3 zitiert er den französischen Theologen Yves Congar aus seinem nicht unbedeutenden Werk "Vraie et fausse réforme dans l'Eglise" ("Wahre und Falsche Reform in der Kirche") aus dem Jahr 1950. Es wurde übrigens bisher vermutlich ganz bewusst nicht ins Deutsche übersetzt: Eigentlich bietet es, trotz mancher Mängel und Zeitgebundenheiten, einen essentiellen Schlüssel für das, was Johannes XXIII. mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beabsichtigte; hätte man es jedoch ins Deutsche übersetzt, hätte man sich eingestehen müssen, dass der von der deutschsprachigen Theologie so heiß geliebten "Geist des Konzils" damit nicht vereinbar ist. Schon die Würzburger Synode besteht den Abgleich mit den von Congar gegebenen Prinzipien nicht. (Franziskus zitiert laut Fußnote aus der italienischen Fassung, was das Zitat in diesem deutschsprachigen Brief zur Übersetzung einer Übersetzung macht...). Angeblich eines der Lieblingsbücher von Papst Johannes XXIII., und auch Papst Franziskus wurde schon in der Vergangenheit nachgesagt, dieses Buch sehr zu schätzen. (Es wird leider auch zuweilen durch selektive Lektüre instrumentalisiert...) Das Zitat ist etwas merkwürdig, da es auf den ersten Blick eigentlich nichts sonderlich wichtiges aussagt, weshalb man sich fragen könnte, warum es überhaupt zitiert wurde. Im Zusammenhang:
»Die aktuellen Herausforderungen sowie die Antworten, die wir geben, verlangen im Blick auf die Entwicklung eines gesunden aggiornamento "einen langen Reifungsprozess und die Zusammenarbeit eines ganzen Volkes über Jahre hinweg". Dies regt das Entstehen und Fortführen von Prozessen an, die uns als Volk Gottes aufbauen, statt nach unmittelbaren Ergebnissen mit voreiligen und medialen Folgen zu suchen, die flüchtig sind wegen mangelnder Vertiefung und Reifung oder weil sie nicht der Berufung entsprechen, die uns gegeben ist.«
Zunächst finde ich nicht das Zitat an sich interessant, sondern die Tatsache dass der Papst ausgerechnet dieses Buch zitiert. Wie schon in Teil 1 dieser kleinen Serie darf man die Tatsache, dass Franziskus hier ausgerechnet dieses Buch zitiert, durchaus als einen stillen Hinweis betrachten, den ich mal so ausformulieren möchte: Lest mal, was in diesem Buch drinsteht!
Ich selbst habe das Buch nur in einer (um den Abschnitt über die protestantische Reformation gekürzten) englischen Übersetzung vorliegen. Es ist wirklich lesenswert, denn dabei fällt einem auf, was wir hier in Deutschland bei unseren Kirchenreformen und -reförmchen seit Jahrzehnten so alles falsch machen. Ohne ins Detail zu gehen, kann man wohl sagen: Nahezu alles.
Und an diesem Punkt finde ich das kurze Zitat von Franziskus nun doch sehr sinnvoll, denn im Grunde ist es eine äußerst knappe Zusammenfassung einiger wesentlicher Punkte aus Congars Buch: Reformen müssen immer in und mit der Gemeinschaft der ganzen Kirche (inkl. Papst) geschehen, und sie dürfen nicht überstürzt werden sondern müssen gewissermaßen organisch wachsen. Congar warnt unermüdlich vor einem Schisma und was er als Ursachen für diese Gefahr ausmacht (100 Seiten des Buches behandeln "Bedingungen für eine authentische Reform ohne Schisma"), trifft leider auf das meiste zu, was hier in Deutschland abläuft. Congar hätte den suizidalen Weg vermutlich als offenkundig schismatische Veranstaltung abgelehnt.
Das rahnersche Buch sollte man getrost vergessen. Wer kann, sollte sich aber mal bei Congar erkundigen, wie Reform geht - und wie nicht. Meine Meinung. Und wohl auch die von Franziskus.
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