Samstag, 31. Dezember 2022
Donnerstag, 29. Dezember 2022
Jesus und Paulus
Ich möchte an einem kleinen, aber doch großen Beispiel zeigen, warum man solche kruden Thesen gelassen ignorieren und wie man sie, wenn nötig, auch gepflegt zerlegen kann.
Beispiel: Reich Gottes
Es ist allgemein anerkannt, dass im Zentrum der Verkündigung Jesu das Reich bzw. die Herrschaft Gottes steht. Über hundert Mal spricht Jesus in den Evangelien davon, und zwar als von einem kommenden, wie auch als von einem schon gegenwärtigen Reich. Und Paulus? 14 mal, und dabei fast ausschließlich als vom Kommenden. Dagegen spricht Jesus nicht sonderlich häufig vom Geist Gottes bzw. vom Heiligen Geist, etwa ein dutzend Mal. Und Paulus? Der spricht über hundert Mal vom Geist! Also genau verkehrt...
Hat also Paulus Jesu Botschaft vom Reich Gottes ersetzt durch seine Rede vom Geist, die bei Jesus eine (scheinbar) geringe Rolle spielte? War Paulus Jesu zentrale Botschaft egal, und er hat sie durch seine eigene ersetzt? Genau das (mehr oder weniger klar ins Wort gebracht) bringt man jedenfalls Theologiestudenten gerne bei.
Die Wahrheit ist dabei erstaunlich simpel: Sowohl für Jesus, als auch für Paulus, ist der Geist Gottes bereits Teil des Reiches Gottes, das wir als seine Söhne erben sollen bzw. er ist Teil der Herrschaft Gottes, denn Gott herrscht in und durch seinen Geist. Der Geist ist es, der das Reich, das einmal in Fülle offenbar werden soll, heute schon gegenwärtig macht. Die Spannung des "schon und noch nicht" löst sich genau im Wirken des Geistes in Klarheit auf.
Jesus: "Wenn ich aber im Geist Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen." (Mt 12,28)
Paulus: "Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, den Geist, der ruft: Abba, Vater. Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott." (Gal 4,6-7)
Für Paulus ist das Reich bzw. die Herrschaft Gottes bereits hier, weil und insofern uns der Heilige Geist geschenkt ist (vgl. 1Kor 6,9-11!). Dass Paulus mehr vom Geist als vom Reich spricht, ergibt sich daraus, dass er nach Pfingsten lebt und spricht: Der Geist ist schon gekommen, den Jesus verheißen hat.
Der gern behauptete Gegensatz existiert nicht. Paulus verkündet, genau wie Jesus, das Reich Gottes. Nur benutzt Paulus diesen Ausdruck seltener, weil er stattdessen an die konkret gelebte Erfahrung des Geistes im Leben der Christen anknüpfen kann. Im Übrigen ist letztlich Jesus selbst die Herrschaft Gottes in Person (er ist mächtig, er gebietet, vergibt, wird richten, ist Herr), daher ist es wenig verwunderlich, dass Paulus anders darüber spricht als Jesus es tat: Für den Apostel ist Gottes Reich da, wo Jesus ist (und, im und durch den Geist, angenommen wird).