Freitag, 6. Mai 2022

Das Neue Testament gegen das Neue Testament

In Diskussionen mit „liberalen“ Theologen und theologisch (halb)gebildeten Gläubigen kommt irgendwann der Punkt, an dem von diesen einzelne neutestamentliche Schriften/Autoren gegen andere neutestamentlische Schriften/Autoren in Stellung gebracht werden.

Beispiel Priestertum: Bei Paulus (und in der Apostelgeschichte) finden wir reichhaltige Zeugnisse über die Organisation der ersten christenlichen Gemeinden, aus denen klar hervorgeht, dass es hierarchisch (d.h. von den Aposteln ausgehend) übertragene autoritative Ämter der Leitung und der Lehre gab (siehe meinen längeren Beitrag dazu HIER). In Erwiderung darauf ist dann etwa zu hören: „Ja, aber das ist ja Paulus. Jesus hat das nicht so angerodnet/gewollt. Das widerspricht der Botschaft Jesu, für den ‚alle gleich‘ waren.“ Insbesondere Paulus ist in solchen Diskussionen regelmäßig der große Verfälscher der wahren Botschaft Jesu.


Wenn wir einmal jene Kleinigkeit beiseite lassen, dass auch mindestens ein Evangelist uns von solchen Ämtern berichtet, nämlich der Autor der Apostelgeschichte, aus dessen Feder auch das dritte Evangelium stammt, dann offenbart so eine Haltung doch etwas Grundfalsches: Hier wird offenkundig nach eigenem Gutdünken ausgewählt, welche Schriften des Wortes Gottes authentisch sind, und welche angeblich bereits Jesu „wahre Intention“ verfälschen. Stichwort: Frühkatholizismus. Solches Auswählen nennt man im Griechischen αἱρέομαι – haireomai: ich wähle aus. Davon kommt unser modernes Wort „Häresie“, und es ist schon seit den ersten christlichen Jahrhunderten ein guter Indikator häretischer Gruppen, dass sie Teile der Heiligen Schrift ablehnen (z.B. Markionismus).

Eine Verfälschung von Jesu Botschaft etwa durch den Apostel Paulus zu behaupten ist aber auch aus historischer Sicht wenig sinnvoll. Bekanntlich ging die Verkündigung des Paulus der Abfassung der (meisten) Evangelien um einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte voraus, und ihre Abfasser stammten womöglich aus von Paulus gegründeten Gemeinden, waren eng mit Paulus verbandelt (etwa als Reisegefährten) oder wussten zumindest von ihm und seiner Tätigkeit; in jedem Fall bestand ihre Zielgruppe, für die sie ihre Evangelien schrieben, zumindest teilweise auch aus den von eben jenem Paulus gegründeten (und mit Lehr- und Leitungsämtern versehenen) Gemeinden. Dass nun die Autoren der Evangelien die faktischen Zustände in den Gemeinden – aus denen sie selbst stammten, die sie mitbegründet oder für die sie ihre Evangelien geschrieben haben –, inklusive der von den Aposteln eingesetzten Ämter, nicht in die Evangelien hineingetragen haben, indem sie diese Gemeindeordnungen gar in den Mund Jesu legten (etwa: „Jesus sprach: Es wird Bischöfe und Presbyter und Diakone geben in euren Gemeinden, die euch leiten und lehren...“), spricht zunächst einmal für die Authentizität der Evangelien, die nicht für eine bestimmte Gemeinde oder für die Belehrung anlässlich einer bestimmten Situation in einer solchen geschrieben wurden, sondern etwas Größeres, Allgemeingültiges vermitteln wollten.

Aber es spricht durchaus auch für die Gewissheit der Evangelisten wie auch der Gemeinden, Jesu Auftrag treu zu sein: Sie wussten, dass Jesus diese Ämter, die sie haben, nicht im Einzelnen festgelegt hat, aber sie wussten auch, dass sie dennoch Jesu Willen treu sind. Darum brauchten sie diese konkreten Strukturen, die sie sich – so sind sie überzeugt – unter dem Beistand des Heiligen Geistes zugelegt haben (mit der Einsetzung solcher Amtspersonen ging stets Gebet und Fasten einher!), nicht Jesus unterzuschieben, um sie zu legitimieren. Es ist schließlich auch interessant, dass kein Autor einer neutestamentlichen Schrift irgendwelche Widerworte oder auch bloß Kritik gegen diese weit verbreitete – „sie setzten in jeder Gemeinde Älteste ein“ (Apg 14,23; vgl. Tit 1,5) – Ämter(struktur) äußert. Es gibt Konflikte um diese Ämter, sicher, aber genau deshalb wissen wir, dass die Apostel auf rechtmäßig (d.h. von ihnen direkt oder über Mitarbeiter) eingesetzten Ämtern bestanden haben (siehe meinen verlinkten Beitrag dazu). Das „königliche Priestertum“ aller Christen wird im NT zudem ausnahmslos ganz ohne irgendwelche Hinweise auf Leitung, Macht und „Partizipation“ erörtert (ebenso).

Schließlich, machen wir uns nichts vor: Hätten die Evangelisten in ihren Evangelien irgendetwas geschrieben, was für die konkrete Ämterstruktur in den christlichen Gemeinden relevant ist, wären die Theologen sofort zur Stelle, diese Passagen als nachträgliche Einfügungen zur Rechtfertigung des bereits (von Paulus?) verfälschten Evangeliums zu identifizieren. Oh, halt, das tun sie ja schon längst: Dass Jesus seine(!) Kirche(!) auf dem Felsenfundament (Petrus) gründen wollte, darf natürlich nicht sein... Die Argumentation solcher Theologie ist auch aus diesem Grund nicht wissenschaftlich, denn sie ist im Endeffekt nicht falsifizierbar: Es lässt sich immer ein „theologisches“ Argument herbeibringen, das die getätigte Behauptung „stützt“, nichts anderes ist ja letztlich die Behauptung, Paulus habe das „wahre Evangelium Jesu“ verfälscht. Und so dreht sich das „häretische“ (nach dem eigenen Gusto auswählende) Karussell weiter…


Eine Abwandlung dieses Vorgehens ist diese so oder so ähnlich oft zu hörende Stammtischfloskel: „So sicher/klar/eindeutig ist das mit [hier beliebiges, von der Kirche längst entschiedenes Thema einsetzen] gar nicht, man kann auch ganz anderer Ansicht sein, schließlich haben wir ja auch vier Evangelien, die sich oft deutlich unterscheiden oder sogar widersprechen!“

Hier wird die Tatsache, dass wir im Neuen Testament VIER Evangelien haben als Argument gegen die Existenz EINER (verbindlichen) Wahrheit oder Moral herangezogen. Das ist natürlich auch Unsinn, denn zwar stimmt es, dass wir vier Evangelien haben, die uns also vier Perspektiven auf Jesus ermöglichen. Aber es stimmt nun mal auch, dass sich diese vier Evangelien in allem Wesentlichen nicht widersprechen: Sie alle berichten über die Menschwerdung Gottes, über Jesu Tod und seine Auferstehung zu unserer Erlösung. „Widersprüche“ gibt es nur hinsichtlich der Orte oder Reihenfolge bestimmter Ereignisse, oder auch über manche Details (wie viele Engel waren in Jesu Grab? hat nur einer der mitgekreuzigten Schächer gegen Jesus gelästert, oder beide? ist Judas gestürzt, oder hat er sich erhängt?).

Bei diesem „Argument“ geht es meist noch nicht einmal um konkrete Fragestellungen, nach dem Schema: Weil Jesus nicht in jedem Evangelium Ehescheidung und Wiederheirat in gleicher Weise verbietet (nämlich nicht bei Johannes), ließe sich schlussfolgern, dass Ehescheidung und Wiederheirat also auch durchaus O.K. sein können. So „inhaltlich“ wird das „Argument“ nur äußerst selten gebraucht, denn das setzt eine gewisse Kenntnis der gegeneinander in Stellung gebrachten Schriften voraus. Sondern i.d.R. wird das schnöde Faktum der Mehrzahl der Evangelien – es geht also nur um die Quantität der Bücher, nicht um die Qualität ihres Zeugnisses – als Rechtfertigung der Legitimität einer Vielzahl von „Deutungen“ behauptet – wiederum rein quantitativ betrachten, nicht qualitativ im Hinblick auf deren Authentizität, Richtigkeit oder gar innere Kohärenz: Es gibt mehr als ein Evangelium, also darf es auch mehr als eine Vorstellung darüber geben, wer Jesus war, was er wollte etc. Es spielt dann auch keine Rolle, wenn sich diese Vorstellungen völlig widersprechen und mit allen vier Evangelien nicht in Einklang zu bringen sind. Dass die Evangelien in ihrer Darstellung dieses Jesus und seiner Verkündigung widerspruchsfrei sind und ein einmütiges Zeugnis abgeben, ist unerheblich, und es lässt sich in so einer Unterhaltung auch nicht mal eben beweisen. Die Behauptung ist schnell gemacht, ihre Widerlegung wäre zu aufwendig...


Übrigens war das Ausspielen oder Überbetonen einzelner biblischer Schriften gegen andere auch das normale Vorgehen frühchristlicher Häresien gewesen: Die Ebioniten akzeptierten nur das Matthäusevangelium, Marcion nur Lukas (mit vielen Auslassungen), manch andere Gnostiker nur Markus und die Valentinianer beharrten einzig auf Johannes. Gerade Marcion war es, der insbesondere den Apostel Paulus über alle anderen Apostel stellte und ihn sogar regelrecht als den einzigen Apostel betrachtete (alle anderen Apostel, so lehren manche Marcioniten, seien verdammt, denn nur Paulus habe die christliche Taufe empfangen).

 

Die christliche Vorgehensweise besteht natürlich seit ältesten Zeiten darin, nicht ein biblisches Zeugnis gegen das andere auszuspielen, sondern das Ganze als authentisches Wort Gottes anzuerkennen. So kann es dann beispielsweise zugleich eine priesterliche Würde aller Getauften, und ein besonderes Priestertum des Dienstes geben, ohne, dass ein Widerspruch bestünde. Unterschiedliche Perspektiven auf das eine und selbe Geheimnis des Glaubens sind dann alle wertvoll, solange sie an der „gesunden Lehre“ festhalten und nicht jeder „nach eigenen Begierden Lehrer sucht, um sich die Ohren zu kitzeln“ (2Tim 4,3). Die vier Evangelien haben je eigene Akzente und Perspektiven, aber sie alle geben Zeugnis von der einen Wahrheit, die Jesus Christus ist. Und Paulus (und Petrus und Jakobus und Judas und Johannes...) ebenso.

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