Samstag, 18. September 2021

absterbende Volkskirche

Viele Verantwortliche „in Kirche“ gehen heutzutage den Weg des geringsten Widerstandes, wenn es um die Verkündigung des Glaubens und der Moral geht; den Weg, der jede Anstößigkeit vermeidet: Man ist, insbesondere dort, wo man sich durchaus auch als „Dienstleister“ sieht, bemüht, „anschlussfähig an die Erfahrung der Menschen“ zu sein, „jedem etwas zu bieten“ und „alle mitzunehmen“. In kurz: Man möchte gerne die Volkskirche (oder einen Anschein davon) aufrecht erhalten. Dieses vorgehen geschieht nicht selten in guter Absicht, und man will es auch im Evangelium begründet sehen: Sollen wir denn nicht allen Menschen Jesus verkünden? Müssen wir es denn nicht allen Menschen ermöglichen, das Evangelium anzunehmen?

Ja, diese Möglichkeit sollen wir allen ohne Ausnahme eröffnen. Aber was heißt das?

Wir sollen Jesus allen Menschen verkünden, das ist richtig: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16,15; vgl. Kol 1,23) Alle Menschen sollen Gottes Heil schauen (vgl. Lk 3,6; vgl. Offb 3,15). Aber: Nirgends im Evangelium steht, dass alle, denen es verkündet wird und die es sehen, es auch annehmen werden. Es besteht ein gewaltiger Unterschied, ob wir allen Menschen die Möglichkeit geben, das Evangelium anzunehmen (indem wir es verkünden), oder ob wir das Evangelium allen Menschen annehmbar machen (indem wir es verwässern).

Eines der bekanntesten Gleichnisse Jesu ist das Sämannsgleichnis:

„Siehe, ein Sämann ging hinaus, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil auf den Weg und die Vögel kamen und fraßen es. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat. Ein anderer Teil aber fiel auf guten Boden und brachte Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach.“ (Mt 13,3-8)

Es ist bezeichnend, dass gerade dieses Gleichnis in aller Ausführlichkeit von Jesus selbst erläutert wird, so dass kein Zweifel über seine Bedeutung besteht: Der Same ist das Wort der Verkündigung, das längst nicht überall, wo es ausgestreut (verkündet) wird, Frucht zu bringen vermag. Also: Was Jesus verkündet fällt nicht überall auf fruchtbaren Boden, es scheint sogar eher nur der kleinere Teil zu sein, der letztlich Frucht bringt, meistens trifft es auf taube Ohren. Für uns Heutige ist das schwer vorstellbar: Wir glauben gern, dass doch jeder halbwegs vernünftige Mensch Jesus toll finden müsste. Seine Botschaft – meinen wir damit eigentlich auch seinen ständigen Ruf zur radikalen Umkehr, oder doch eher ausschließlich den zur dienstbereiten Mitmenschlichkeit? – müsste doch von jedem anerkannt und bejaht werden können…

Aber genau das war offenkundig nicht der Fall, die Menschen nahmen ihn nicht auf (vgl. Joh 1,11), lehnten ihn ab, nahmen Anstoß, hassten und verfolgten ihn sogar bis zum Tod. Dabei ist es zu billig, hier einfach die „bösen“ Menschen zu beschuldigen. Es sind ganz normale Menschen, die an ihm wegen seines Anspruchs Anstoß nehmen (vgl. Mt 13,57), und sogar seinen eigenen Jüngern prophezeite er mit Blick auf sein Leiden: „Ihr werdet in dieser Nacht an mir Anstoß nehmen“ (26,31). Jesu Worte und Taten kommen nicht bei jedem noch so wohlwollenden Hörer an; bei den meisten Zuhörern stieß Jesus früher oder später auf Ablehnung, am Kreuz, am Ziel und Höhepunkt seines Heilsweges, war er dann fast ganz allein.

Für uns stellt sich die Frage: Warum sollten wir Heutigen mehr Erfolg in der Verkündigung erwarten, als es Jesus selbst beschieden war? Sind wir bessere Verkünder als er? Sind wir bessere Zeugen der Liebe Gottes, als die Liebe Gottes in Person? Wenn es nicht aufgeht, ist laut Gleichnis nicht das Saatgut (d.i. die Botschaft) schuld, sondern der unfruchtbare Boden (oder die Doofheit des Sämanns, weil er das Saatgut auf die Felsen wirft…).

Die Bibel ernst nehmend, müssen wir realistischerweise anerkennen, dass es auch „Säue“ gibt, vor die wir die „Perlen des Heiligen“ nicht werfen sollen, damit sie nicht zertreten werden (vgl. Mt 7,6), dass es nicht selten vorkommt, dass Jesu Jünger aus einer Stadt abziehen müssen und von ihren Sandalen den Staub „zum Zeugnis gegen sie“ abschütteln (vgl. Lk 9.5), und dass selbst „viele seiner Jünger“ sich wegen der „harten Worte“ Jesu zurückziehen und nicht mehr mit ihm umhergehen“ (Joh 6,66). Insbesondere in letzterem Fall, in der großen Eucharistierede im Johannesevangelium, offenbart Jesus in unübertrefflicher Deutlichkeit seinen Zuhörern etwas, was sie erschüttern musste: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag“ (Joh 6,54) Ergebnis: Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören? Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß? [...] Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher.“ (VV. 60-61.66) Jesus ging ihnen nicht nach und rief: „Halt, wartet, ich habe es nicht so gemeint, ich meinte es doch bloß symbolisch!“, sondern er blieb beim verstörenden Realismus seiner Aussage und fragte seine Apostel: „Wollt auch ihr weggehen?“ (V. 67) Dieser Weggang von „vielen“ seiner Jünger wird umso erschütternder, wenn man bedenkt, was die Konsequenz für die Weggehenden sein könnte: „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch.(Joh 6,53) Der Clou: Jesus hat das „Brot vom Himmel“ seinen Zuhörern von einst durchaus pädagogisch klug anhand ihrer eigenen Lebens- und Gedankenwelt zu erklären versucht, nämlich ausgehend von einem Vergleich mit dem Manna in der Wüste (Joh 6,48-51) – und trotzdem kehrten sich viele ab und akzeptierten es nicht. Pädagogische Klugheit scheint also auch nicht das Allheilmittel zu sein.

Den Fall von Johannes 6 würde man in der heutigen Pastoral als unerhörten Skandal sehen: Jesus geht seinen Zuhörern nicht nach, er lässt sie ziehen und bleibt bei seinem Wort, das nicht bei jedem Anklang fand. Wir lernen: Noch nie war das Evangelium zeitgemäß, den Zuhörern angemessen, allgemein verständlich oder mehrheitsfähig. Die Realität ist, dass Jesus für die Verkündigung des Evangeliums v.a. Ablehnung erfuhr und letztlich auch verfolgt wurde, ebenso die Apostel. Manchmal wird versucht, den Grund für diese Verfolgung ausschließlich in politischen Motiven zu suchen, nicht in der verkündeten Botschaft. Aber das ist Unsinn: „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz  muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat.“ (Joh 19,7)

Hier kann der Prophet Ezechiel ein stimmiges Vorbild für uns sein: Gott sendet ihn zum Volk Israel, bekräftigt aber eigens, dass er sich nicht um den Erfolg oder Misserfolg seiner Predigt kümmern soll: „Zu ihnen sende ich dich. Du sollst zu ihnen sagen: So spricht Gott, der Herr. Sie aber: Mögen sie hören oder lassen – denn sie sind ein Haus der Widerspenstigkeit –, sie werden erkennen müssen, dass mitten unter ihnen ein Prophet war.“ (Ez 2,4-5; vgl. V. 7; 3,11) Der Auftrag der Kirche, wie der der Propheten und Jesu selbst und seiner Apostel, war und ist es nicht, „gut anzukommen“, sondern das Wort zu säen. Jesus sagte doch: „Wenn man euch nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, geht weg aus jenem Haus oder aus jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen!“ (Mt 10,14) Er sagte nicht, was man heute zu gerne denkt: „Wenn man euch nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann sagt ihnen andere Worte, sie hören wollen!“ Ob das Wort auf guten Boden fällt, wächst und Frucht bringt, haben wir nicht in der Hand, wir können höchstens für die Qualität des Samens sorgen, also um die Authentizität und Integrität des verkündeten Evangeliums. Das Wachsenlassen ist Gottes Sache (vgl. 1Kor 3,5-9). Aus dieser Demut – in dem Wissen, dass wir die zu verkündigende Botschaft nie allen annehmbar machen können – erwächst dann womöglich ganz von selbst ein Selbstbewusstsein, das der gesellschaftlichen Realität die Stirn bietet und trotzdem verkündet, wie Ezechiel (vgl. Ez 3,7-9).

Damit ist nicht jedem gedankenlosen Verkündigungsirrsinn (z.B. Obstkiste in der Fußgängerzone) Tür und Tor geöffnet, denn natürlich gilt es, auf Identität, Situation und Fassungsvermögen der Zuhörer Rücksicht zu nehmen. Paulus ist das beste Beispiel, wenn er an die Korinther schreibt: „Vor euch, Brüder und Schwestern, konnte ich aber nicht wie vor Geisterfüllten reden; ihr wart noch irdisch eingestellt, unmündige Kinder in Christus. Milch gab ich euch zu trinken statt fester Speise; denn diese konntet ihr noch nicht vertragen. (1Kor 3,1-2) Der springende Punkt ist aber gerade der, dass dieser Status überwunden werden soll. Der gleiche Paulus schreibt nämlich auch, er „bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher an Einsicht und Verständnis wird, damit ihr beurteilen könnt, worauf es ankommt.“ (Phil 1,9) Und noch deutlicher:

„Daher hören wir [] nicht auf, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichen Einsicht erfüllt werdet. Denn ihr sollt ein Leben führen, das des Herrn würdig ist und in allem sein Gefallen findet. Ihr sollt Frucht bringen in jeder Art von guten Werken und wachsen in der Erkenntnis Gottes. [] Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in [seinem Sohn] wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen“ (Kol 1,9-10.19-20).



Abstriche an Glaubensinhalten und an der Moral zu machen, ist ein Symptom einer absterbenden Volkskirche. Nur jemand, der selbst aus der Volkskirche stammt, könnte auf die Idee kommen, den Glauben nach eigenem Ermessen umzumodeln (oder jemand, der das ohnehin vorhat und extra dafür der Körperschaft öffentlichen Rechts "Katholische Kirche in Deutschland" beitritt  auch solche gibt es). Die Akteure der Glaubenszersetzung, auch die Theologen, kommen allesamt aus der Volkskirche: Viele Bischöfe die von der „Relevanz der Kirche in der Gesellschaft“ reden, trauern dem Ansehen nach, das ihr Amt in Zeiten der Volkskirche genossen hat, manch andere Funktionäre sehnen sich nicht minder nach den Pfründen, die ihre Position früher einmal mit sich brachte und die Theologenschaft möchte einfach möglichst vielen was zu sagen haben, sie brauchen ein Publikum (darum reden sie über alles mögliche, nur nicht über den Glauben).

Diese Zersetzung ist

1. der Versuch, die Flächendeckung der Volkskirche möglichst zu erhalten, was logischerweise nur dadurch bewerkstelligt werden kann, dass man Glaube und Kirche einer möglichst großen Zahl von Menschen zumutbar, annehmbar, bekömmlich macht. Sprich: indem man Glaube und Moral den Wünschen der Menschen anpasst. Im Idealfall lässt man „demokratisch“ (d.h. durch handverlesene Repräsentanten) darüber abstimmen.

2. eine Reaktion auf (auch zu Recht) beklemmend empfundene Eigenheiten des Volkskirchentums, deren man sich entledigen will. Weil die Volkskirche (die man aber, siehe 1., komischerweise zu erhalten versucht) problematische Begleiterscheinungen hatte, muss man alles mögliche ändern, von dem man meint, dass es für die Probleme verantwortlich war. Dafür eignen sich besonders all die Dinge, zu denen man selbst eh keinen echten Bezug hat.

Der Form wird so Priorität vor den Inhalten gegeben. Was den Handelnden nicht in den Sinn kommt ist, dass die Probleme der Volkskirche in ihrer Sozialform (eben: Volkskirche) begründet sind, nicht in Glaube und Moral, denn ihr Festhalten an jener Form bei gleichzeitiger Ablehnung dieser Inhalte übertönt alles. Umso bedenklicher, dass es im Grunde diese Sozialform ist, die man erhalten möchte, indem man den Glauben abspeckt. Wie man es auch dreht und wendet, das Vorgehen ist in jeder Hinsicht ganz falsch.



Der natürliche Zustand des Christen ist nicht die Volkskirche, sondern die Verfolgung. Jesu Verheißung lautete bekanntlich nicht: „Selig seid ihr, wenn alle um euch herum nominell Christen sind…“ sondern: „Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. […] wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ (Mt 5,11; 10,39) Freilich: Wir sollen die Verfolgung nicht suchen oder provozieren. Paulus: „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!“ (Röm 12,18) Aber dieses „soweit möglich“ betrifft genau die Lehre des Glaubens und das aus ihr resultierende moralische Leben, das zu bezeugen Standhaftigkeit gegen Widerstände verlangt: „Seid also standhaft, Brüder und Schwestern, und haltet an den Überlieferungen fest, in denen wir euch unterwiesen haben“ (2Thess 2,15).

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