Mittwoch, 9. Oktober 2019

Moral als Weg

In den frühesten Anfängen, noch bevor das Wort »Christen« gebildet wurde, hieß die christliche Religion einfach »Weg«. Nicht weniger als sechsmal finden wir diese Bezeichnung in der Apostelgeschichte, die uns von der ersten Phase der geschichtlichen Entfaltung des Christentums berichtet. »Ich habe diesen Weg verfolgt«, bekennt zum Beispiel der heilige Paulus in seiner Rede vor den Juden im Tempelvorhof, und er will damit sagen, dass er die Christen verfolgt habe (Apg 22,4). Wenn das Christentum Weg genannt wird, so bedeutet dies, dass es vor allem eine bestimmte Art zu leben vorzeichnete. Glaube ist nicht bloße Theorie, er ist vor allem ein »Weg«, das heißt eine Praxis. Die neuen Überzeugungen, die er schenkt, haben einen unmittelbar praktischen Inhalt. Glaube schließt Moral ein und zwar nicht bloß allgemeine Ideale. Er gibt vielmehr konkrete Weisungen für das menschliche Leben. Gerade durch ihre Moral unterschieden sich die Christen in der antiken Welt von den anderen; gerade so wurde ihr Glaube als etwas Neues, unverwechselbar Eigenes sichtbar. Ein Christentum, das nicht mehr gemeinsamer Weg wäre, sondern nur noch unbestimmte Ideale verkünden würde, wäre nicht mehr das Christentum Jesu Christi und seiner unmittelbaren Jünger. Deswegen ist es eine bleibende Aufgabe der Kirche, Weggemeinschaft zu sein und konkret den Weg des rechten Lebens zu zeigen.

(aus: Joseph Ratzinger, Glaube als Weg. Hinführung zur Enzyklika des Papstes über die Grundlagen der Moral [Veritatis splendor])

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