Donnerstag, 28. Oktober 2021

Ulrich Wilckens als Exeget

Der evangelische Bischof und Theologe Ulrich Wilckens ist am Montag verstorben. Ein mutiger Kämpfer für das Christentum und ein herausragender biblischer Theologe (auch wenn man ihm natürlich nicht in allem zustimmen muss). 2011 hat er sich in einer Antwort auf den Bochumer Alttestamentler Jürgen Ebach über das Thema Homosexualität geäußert, die gut verständlich die biblische Sicht darlegt. Schon die einleitenden Bemerkungen machen deutlich, dass Wilckens etwas tun konnte, wozu die meisten (deutschsprachigen) Theologen nicht in der Lage sind: Er hat dazugelernt, sich auch als vermeintlicher "Profi" noch einmal neu am Wort Gottes ausgerichtet und seine Position entsprechend geändert. Es ist ein Lehrstück in Sachen gläubige Theologie.

R.I.P.

Von evangelisch.de.

 

Bibel und Homosexualität: Die Antwort von Altbischof Wilckens

Ebachs Beitrag vom 2. Februar 2011 zur Debatte über den offenen Brief der acht Altbischöfe bedarf einer Antwort und einer Entgegnung.

Zunächst die Anwort.

Sie betrifft das Zitat aus meinem Kommentar zum Römerbrief, das Ebach mir am Schluss als Selbstwiderspruch vorhält. In der Tat habe ich mich in der Erstauflage von 1978 dagegen ausgesprochen, die scharf verurteilenden Sätze des Apostels Paulus in Röm 1,26f. "heute noch in dem Sinne zu übernehmen, daß Homosexualität ein sittlich verwerfbares Vergehen sei". Es ist Ebach jedoch entgangen, dass ich diesen Satz in der 3. durchgesehenen Auflage von 1997 getilgt habe. Erst im Zusammenhang meines Bischofsdienstes 1981-1991 nämlich bin ich genötigt worden, nicht nur über die jüdische Herkunft dieses Urteils des Apostels, sondern vor allem zugleich über die theologische Begründetheit seines großen Gewichts im Zusammenhang biblischer Theologie im ganzen neu verantwortlich nachzudenken. Überhaupt hat mein verantwortlicher Dienst in der kirchlichen Praxis meine wissenschaftliche Exegese theologisch vertieft, wie es meine "Theologie des Neuen Testaments", die ich danach in meinem Ruhestand erarbeitet habe, erweist. Ich wünschte Herrn Ebach in seinem Ruhestand eine entsprechend intensive Neubegegnung mit der Bibel als der Heiligen Schrift der Kirche - so würde ihm seine Art, über ernste Dinge so herablassend "spöttisch" zu denken und zu reden, ganz von selbst vergehen.

Nun aber die notwendige Entgegnung.

Gewiss haben zur Zeit des Alten und Neuen Testaments "auf Dauer angelegte Liebesbeziehungen zu Menschen gleichen Geschlechts", wie es sie heute gibt, noch nicht im Blick gestanden. Aber auch in solchen Partnerschaften heute wird doch in der sexuellen Praxis jedenfalls genau das getan, was im alttestamentlichen 3. Mosebuch (18,22; 20,13) und im neutestamentlichen Römerbrief (1,26f.) konkret benannt wird: Beischlaf von Männern mit Männern. Diese Sexualakte sind es, die als "Greuel" beziehungsweise als "Schande" verurteilt werden. Der Bibelwissenschaftler Ebach fragt aber nicht historisch-kritisch, was in dieser langen Zeit vom Alten bis ins Neue Testament die theologischen Gründe für diese Verurteilung waren, sondern er begnügt sich als moderner Zeitgenosse mit der polemischen Vermutung, wer in heutiger Auslegung dieser Verurteilung noch Gewicht beimesse, der wolle "ein ohnehin feststehendes (eigenes) Urteil unterfüttern". So nimmt man weder die biblischen Texte ernst noch auch seine Meinungsgegner der Gegenwart als deren Exegeten.

Immerhin steht am Schluss der Verbotsreihe in 3 Mose 18,30 der heilige Name Gottes selbst, mit dem alle diese Verbote nachdrücklich autorisiert werden: "Ich bin Jahwe, euer Gott!" Wer solches gegen den Willen des heiligen Gottes tut, versetzt sich selbst in einen Zustand der Unreinheit (20,24,26). (1) Entsprechend spricht Paulus in der Überschrift Röm 1,18 von Gottes "Zorngericht gegen alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit von Menschen", die der Gerechtigkeit Gottes als der Wahrheit seines Wesens zuwiderhandeln. Gott überlässt sie der sittlichen Verkommenheit - sagt Paulus - und der Herrschaft des Todes mitten in ihrem Leben, der sie sich selbst preisgegeben haben (1,24ff.) - im Gegensatz zu ihrer Selbsteinschätzung als "Weise" (1,22). Die gleichgeschlechtlichen Akte in 1,26f. sind nur herausragende Beispiele aus der langen Liste anderer Verstöße gegen die Zehn Gebote (1,28-32). Bei genauerem Hinsehen entdeckt man in 1,23 auch einen Hinweis auf die Herrlichkeit der Ebenbildlichkeit des von Gott geschaffenen Menschen, die mit solchem Tun ebenso preisgegeben wird wie mit der Anbetung (selbstgemachter) Götzen in Tiergestalten.

 

Jeder außereheliche Sex ist Verkehrung der Natur

Ist doch der Mensch nach dem Schöpfungsbericht in 1 Mose 1,27 als Mann und Frau geschaffen. Keiner gehört zuerst sich selbst und dann auch seinem Geschlechtspartner, sondern sie gehören zueinander. Und so ist auch für ihr sexuelles Zusammenleben allein die Ehe der angemessene Ort - nur so können und sollen sie Vater und Mutter von Kindern werden, wie Gott der Vater all seiner Menschen ist. In diesem Sinn ist jeglicher Sex außerhalb der Ehe Verkehrung der Natur - nämlich als der guten Ordnung der Schöpfung. Das lehrt der Zusammenhang und Hintergrund des Textes - ein flüchtiger Blick in das Lexikon unter "Natur" führt dagegen nur in lächerliche Irre.

Mit spöttischer Ironie spielt Ebach dann das Thema durch, dass viele Gebote des alttestamentlichen Ritualgesetzes im Neuen Testament ihre Geltung verloren haben: nicht etwa weil sich vom Alten zum Neuen Testament die Zeiten eben verändert hätten und damit natürlich auch das Denken und Verhalten der Menschen. Der Grund ist vielmehr das Heilshandeln Gottes in der Hingabe seines eigenen Sohnes in den Tod, um die Sünder der ganzen Welt aus der Herrschaft des Todes über ihr Leben zu erretten. Wo Gott in Christus sein Heil schaffendes Handeln über sein Volk Israel hinaus auf alle Völker ausgeweitet hat, müssen Heiden nicht mehr gesetzestreue Juden werden, um daran teilzuhaben (vgl. Gal 3,26-28). Der Beschluss der führenden Repräsentanten der werdenden Kirche in Apg 15,20, den Ebach anführt, diente in kirchenleitender Weisheit nur für Gemeinden (wie der im syrischen Antiochien), in denen Juden mit Heiden zusammenlebten. Dort sollten Judenchristen nicht gezwungen sein, um der Gemeinschaft mit den Heidenchristen willen, selbst der Tora untreu werden zu müssen. In den heidenchristlichen Gemeinden des Paulus galt dieser Beschluss verständlicherweise nicht (Gal 2,5ff.). Das ist also kein Beweis für die vielerlei Widersprüche innerhalb der Bibel, die zu kritischer Auswahl für uns heute geradezu nötigten, wie Ebach und zahlreiche andere liberale Theologen meinen. Bei gründlicher Auslegung im Gesamtzusammenhang der Bibel werden nicht wenige solcher Widersprüche als durchaus sinnvoll erkennbar. Die "bis zur Widersprüchlichkeit reichende Vielfalt" des biblischen Zeugnisses gibt uns keineswegs das Recht, das für uns Sinnvolle und Passende auszuwählen und das andere der Vergangenheit zu überlassen, sondern sie erzieht uns zu umso sorgsamerer Exegese der "Tiefenschicht" biblischer Theologie.

 

Falsch verstandene Nächstenliebe

Hier rückt Ebach nun mit dem eigentlichen Grund heraus, warum für ihn ein Bruch mit dem biblischen Verbot gleichgeschlechtlicher Praxis durch die Bibel selbst nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten erscheint. Als das einzige Gebot, das heute noch wirklich vollauf Geltung hat, sei das der "Nächsten- und Fremdenliebe", das es ausschließe, "meine Mitmenschen und auch die, deren Lebensweise mir fremd ist, zu diskriminieren". Gewiss ist es Christen verboten, dem Gewissen anderer Gewalt anzutun (1 Kor 8,12) (2) und überhaupt irgendeinen Menschen persönlich zu "diskriminieren". Wo jedoch würde im Sinne der Heiligen Schrift ein Mensch seiner Ehre beraubt ("diskriminiert"), wenn ihm bezeugt wird, dass er in seinem Handeln und in seiner Lebensweise Gottes heiligem Willen widerstreitet? Wie könnte die von Gott gebotene Nächstenliebe auf solche seelsorgerische Hilfe verzichten sollen, durch die ein Bruder oder eine Schwester - selbstverständlich in sehr sorgsamer, persönlich-naher Zuwendung - von seinem Unrecht gegen Gottes Willen überzeugt und zum Empfang seiner Vergebung bereit wird?

Wo wäre es im Sinne der Schrift, das göttliche Gebot der Nächstenliebe bloß auf die Pflicht zu reduzieren, andere Menschen in ihrer autonomen Freiheit zu tolerieren, die ihr Leben so gestalten wollen, wie es ihnen angemessen oder wünschenswert erscheint? So denken in unserer heutigen Umwelt zwar viele - auch viele Kirchenmitglieder, die dies so selbstverständlich als wichtigstes Gebot in einer freien Gesellschaft empfinden, daß sie gar nicht mehr merken, wie das Gebot der Nächstenliebe seines christlichen Sinnes entleert wird, wenn es der unbedingten Anerkennung der Lebensweise jedes Mitmenschen nach seinem ureigenen Willen dient. Die Liebe zum Nächsten hat aber im Willen der Liebe Gottes ihren Grund und ihre Quelle. Und so muss ein Christ auch sein sexuelles Verhalten ganz nach dem Willen Gottes ausrichten und daher wissen, dass gleichgeschlechtliches Zusammenleben - wie alle außereheliche Sexualität - dem Gotteswillen widerspricht. Will er dagegen so leben oder meint er, er könne nicht anders als so zu leben, dann ist es ihm jedenfalls nicht erlaubt, dies durch die Schrift als gerechtfertigt zu erklären und für seine Lebensweise von seiner christlichen Kirche Anerkennung zu erwarten oder gar zu fordern.

 

Christliches Leben in einer säkularen Gesellschaft

Wer die Bibel als Dokument des heiligen Heilswillens Gottes ernst nimmt, wird gar nicht anders können, als in ruhiger Klarheit diesen Heilswillen in einer nicht mehr christlichen Gesellschaft persönlich zu bezeugen und die christliche Lebensweise als Alternative zu denen seiner säkularen Umwelt zu vertreten, die ihre Norm ganz im eigenen Lebenswillen eines jeden einzelnen Menschen weiß und wissen will. Nach dieser Norm besteht Freiheit in autonomer Willkür und deren Schutz in ausnahmsloser Toleranz für alle Mitmenschen. Wie weit dieser moderne "kategorische Imperativ" unserer gesellschaftlichen Lebenswelt wirklich hilft und wie es in einer solchen Gesellschaft auf Dauer überhaupt möglich sein wird, allgemeingültige Menschenrechte als Norm zu begründen, nach der zu leben und sich für sie einzusetzen, jedermanns absolute Pflicht ist, das möge im öffentlichen Diskurs zu klären oder irgendwann als nicht mehr zu klären oder gar durchzusetzen zu erfahren sein. Christen müssen es jedenfalls wagen, in diesen Diskurs die Stimme des Willens Gottes einzubringen, ohne den als transzendente oberste Norm und als allein wirklichen Schutz für jeden Menschen Menschenwürde und Menschenrechte nicht wirklich Bestand haben können.


Anmerkungen:

(1) Rituelle Unreinheit bemißt sich nach alttestamentlichem Verständnis an der Heiligkeit Gottes.

(2) Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern, und schlagt auf ihr schwaches Gewissen ein, so versündigt ihr euch an Christus.

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